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Noch reiner als in diesen altarmenischen Häusern in Jazlowiec äußerte sich das
armenische Stilgefühl in den Holzbauten mit ihrer originellen Dachform. Über dem ziemlich
schwerfälligen, nüchternen ebenerdigen Bau schwingt sich ganz unerwartet, eine wahre
architektonische Überraschung, ein hohes, sehr spitzes, stark geschweiftes Dach (2a?üZ) empor;
die an seinen beiden Giebelenden aufgepflanzten lanzettartigen, etwa meterhohen Spitzen
(stilp) bringen das Motiv des flugartigen Emporstrebens besonders energisch zum
Ausdruck. Es scheint sich darin der Nationalcharakter auszuprägen; auf schwer beweglicher
phlegmatisch seßhafter Anlage ein plötzliches, unvermitteltes, cholerisches Emporschnellen,
eine zwischen abgegriffenen Geschäftsbüchern, vergilbten Zetteln und Rechnungen, den
stummen Zeugen jahrelangen Handelns, Feilschens und Nachrechnens, sich plötzlich los-
ringende, emporschießende Phautastik. Solcher Häuser besaß das Städtchen «sniatyn
noch vor wenigen Jahren mehrere.
Das figurale Element sagt dem armenischen Kunstcharakter weuig zu; die Evangelisten-
figuren, die man in zahlreichen in Polen entstandenen Evangeliaren findet, sind im Ganzen
und Großen nnr eine ohnmächtige Wiederholung allgemein-byzantinischer Vorlagen.
Um so origineller, eigenartiger ist das armenische Ornament ; das zu unserer Dar-
stellung abgebildete ist einem in Polen im XVII. Jahrhundert entstandenen, jetzt im Kloster
San Lazzaro in Venedig befindlichen Evangeliar entnommen. Dort, wie auch in dem
Mechitaristenkloster am Neuball iu Wien und im Czartoryski'schen Museum in Krakau
finden sich mehrere iu Poleu entstandene und illnminirte armenische Codices; die schönsten
besitzt aber wohl die Pariser bidliotköque nutionals. Durch feste Struetur, durch
organische Gliederung unterscheidet sich das armenische Ornament äußerst vortheilhast von
dem wirbellosen byzantinischen, das in regenwnrmartigen Windungen bedeutungslos nach
unten verläuft. Viel weniger wird das Auge von den Initialen befriedigt, wo zwischen
Ranken und Blättern Vögel und Fische ihre Jahrhunderte alten akrobatischen Kunststücke
forttreiben; denn dies spitzfindige Witzeln vermag nur schwer die eigentliche Ursache, das
verlegene Schwanken zwischen dem orientalischen, das heißt dem ornamentalen, und dem
oceidentalen, das heißt dem figuraleu Elemente zu maskiren. Als vereinzeltes scherzhaftes
Spiel läßt man es sich gefallen; wenn man aber diese bizarren Verschlingungen des in
Polen im XVI. Jahrhundert entstandenen Evangeliars auf einem bereits 1375 in Armenien
geschriebenen Zug um Zug wiederfindet, muß man doch zugeben, daß auch der armenische
Zweig die frühe Erstarrung der Formen mit seinem byzantinischen Stamme gemein hat.
Sie theilen auch die weiteren Schicksale, beide gehen ziemlich gleichzeitig zu Grunde;
sie verfaulen, denn die Hochflnth des Barocks hat den Boden, auf dem sie früher so schön
gediehen, in einen ungesunden Morast verwandelt. Zwar wird im Beginn des XVII. Jahr-
hunderts noch manch schönes schlankes Linienspiel aus den Evangeliaren auf die Grabsteine
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch