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Die Volksmusik bei den Polen stellt einen ganz besonderen Typus dar. Die
Hauptcharakterzüge bestehen in der unendlichen Mannigfaltigkeit des Rhythmus, in kurzen
musikalischen Phrasen und in der lebhaften Bewegung. Die Volksmusik der Polen unter-
scheidet sich daher auffallend von der Volksmusik der östlichen und südlichen Slaven. Eine
breitangelegte Melodie, in welcher der Rhythmus in milderen Accenten sich bewegt,
wechselndes Tempo mit wechselndem Tact ist der polnischen Volksmusik vollkommen fremd.
Ein anderer wichtiger Charakterzug der polnischen Volksmusik ist das Solistische, neben
vollkommenem Mangel an polyphonen Anlagen, entsprechend dem mangelnden Bedürfniße,
in der Mittellage zu singen, und der schwach entwickelten Anlage zur reinen Intonation.
Das polnische Volk singt immer höher als die natürliche Mittellage der Stimme es erlaubt,
und es wird namentlich bei den Weibern als gute Eigenschaft angesehen, wenn sie in der
Kirche in einer möglichst hohen Stimmlage singen.
Die polnische Volksmusik kann in zwei Gruppen getheilt werden: in Lieder, welchen
ein Tanzrhythmus zu Grunde liegt, und in Lieder mit weicheren Accenten. Die erste Gruppe
ist die zahlreichste und interessanteste. In diesen Liedern offenbart sich Ritterlichkeit und
Vornehmheit gepaart mit Humor. Für Leid, Sehnsucht bleibt hier kein Raum. Bei den
Kleiurusseu äußert sich in allen Liedern, welcher Art dieselben auch sonst sein mögen,
Melancholie. Der Pole erfüllt sein Lied mit der Zuversicht des lustigen Lebemannes, ein
Ausruf am Ende der Strophe verleiht seinem Liede einen kecken Charakter. Während der
Kleinrusse sich im langsamen Tempo gefällt, sind rasches Tempo und harte Tonart die
Hauptmerkmale eines echt polnischen Liedes.
Der volksthümliche Kirchengesang vermochte beiden Polen niemals eine gewisse
Höhe zu erreichen. Der Ritus der abendländischen Kirche erforderte weder Sänger noch
Chöre, das Volk sang fromme Lieder und Litaneien, bei welchen die Hauptsache war, den
Text von Anfang bis zu Ende nach einer kurzen unbedeutenden Melodie zu singen. Mit der
Einführung der Orgeln begann die Epoche unwissender, roher Organisten, deren Kunst in
kurzen Responsorieu und im Vorsingen und Mitspielen der Lieder und Litaneien bestand.
Von gebildeten Vorsängern, Componisten, Lehrern oder von Sängerschulen im Allgemeinen
war keine Spur. Die Ausbildung des Kirchengesanges in Polen wurde auch dadurch gehindert,
daß die höheren Classen sich um denselben nicht kümmerten. Zwar gab es an einigen
Kathedralen schon im XV. Jahrhundert Sängerchöre, welche künstlichen Gesang pflegten, an
den Höfen großer Machthaber und an königlichen Kapellen standen Kapellmeister an der
Spitze der Musikkapellen, aber dieser Gesang und diese Musik, der Genuß vornehmer
Personen, ragte so sehr über die musikalische Leistungsfähigkeit des Volkes hinaus, daß sie zur
Förderung und Hebung des volksthümlichen Kirchengesanges so gut wie gar nichts beitrugen.
Das Volk sang seine Lieder und Litaneien, ohne sich um diese künstliche Musik zu kümmern.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch