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reichen Bibliothek und anderen Sammlungen besteht, und der wissenschaftlichen, vor Allem
der historischen Forschung die größten Dienste geleistet hat.
Wir stehen in einer sehr achtbaren, verdienstvollen Literaturperiode. Freilich sind die
praktischen, militärischen und administrativen Verdienste überwiegend. Die Bildung und
Cultur aber stand auf einer hohen, ja glänzenden Stufe; und die Literatur, wenn auch nicht
durch Talente ersten Ranges vertreten, ist geistreich, moralisch gesund, an Empfindungskrast
der vorigen Epoche jedenfalls überlegen, von einem ernsten, tiefen Patriotismus beseelt.
Doch war sie mehr geschätzt als beliebt. Ihre Formen erschienen veraltet und steif, ihr
Inhalt kalt und interesselos. Nun war aber seither eine Generation herangewachsen, die
unter dem Eindruck der welterschütteruden französischen Revolution, unter jenem der
Theilung Polens und seiner letzten Befreiungskämpfe geboren und erzogen war. Der erste
jener Eindrücke erweckte den Glauben, die Freiheit sei des Menschen, also auch der Nationen
Recht. Der zweite ließ das Bewußtsein eines erlittenen ungeheueren Unrechts, einen grenzen-
losen patriotischen Schmerz in den Seelen zurück. In den ersten Jahren nach der Theilung
fanden diese Gefühle keine bestimmte Form; bald darauf erschien an der Grenze Napoleon
mit seinen Truppen und erweckte die Hoffnung, das Unrecht werde ein kurzes vorüber-
gehendes Übel, kein dauernder Zustand sein. Als aber Napoleon gestürzt, die Kriegszüge
zu Ende und die Friedensgrnndlagen im Wiener Congreß geregelt waren, da kam der
Augenblick, in relativ ruhiger Zeit, sich von allen jenen Eindrücken und Gefühlen Rechenschaft
zu geben, die seit dem Jahre 1791 auf die Nation eingestürmt waren. Jenes Gefühl des
erfahrenen Unrechts und jener patriotische Schmerz stiegen nunmehr in die Tiefe der Seelen
hinab und steigerten sich im Stillen zu einer nie vorher geahnten Macht, zu einer leiden-
schaftlichen Liebe des verlorenen Vaterlandes. Die rnhige, maßvolle Dichtkunst der „Freunde
der Wissenschaften" konnte dieser Gesinnung keinen richtigen Ausdruck geben.
Anderseits trat in ganz Europa eine herrliche Wiedergeburt aller Literaturen ein.
Was in Deutschland seit Jahren, in England soeben durch Byron geleistet war, das brach
sich sogar in dem classischen (in Polen ain besten bekannten) Frankreich Bahn. So lange
die napoleonischen Kriege dauerten, war die polnische Jugend mit allem Anderen eher als
mit Literatur beschäftigt; man ließ die Clafsiker ruhig auf dem gewohnten Wege den
gewohnten gemessenen Schritt gehen. Als aber mit dem Friedensschlüsse die Ruhe eintrat,
da begann ein heißes Begehren nach den neuen Formen, eine leidenschaftliche Begierde
nach jenen verschlossenen Wundern, welche die unbekannte Welt der deutschen und englischen
Dichtung in sich barg. Man fing an zu lesen und — man erhielt den bezaubernden Eindruck
einer plötzlichen Offenbarung der neuen, der wahren Schönheit und Kunst.
Aus diesen drei Quellen also, aus der französischen Revolution und dem chronischen
Erdbeben, welches sie zur Folge hatte, aus dem Untergang Polens und dem patriotischen
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch