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französischen Geschmacks. Daher kommt es wohl, daß er zwischen Classikern und Roman-
tikern einen mittleren Standpunkt einnimmt und beiden kriegführenden Parteien gut gemeinte
Wahrheiten zu sagen weiß.
Die Bahn war also geebnet, die Elemente und Einflüsse hatten Zeit genng, ihre
Wirkung hervorzubringen, der Durst nach einer neuen höheren Poesie war allgemein und
brennend; alle Bedingungen waren schon da, es bedurfte nur noch des letzten, des aller-
nöthigsten, des Genies. Die Universität zu Wilna, vom Fürsten Adam Czartoryski
reorganisirt, an tüchtigen Lehrkräften reich, stand eben in ihrer Blüte, und übte eine starke
Anziehungskraft auf die Jugend aus. Schüler strömten zahlreich zu; fleißig, wißbegierig,
sehr patriotisch gesinnt, brave, tüchtige Studenten, Schöngeister und schöne Seelen dazu.
Sie alle schwärmten für die deutschen und englischen Dichter. Alles las, alles wollte dichten.
Schiller, Goethe und Bürger, Byron, Moore und Walter Scott wurden nach Kräften
nachgeahmt. Alles war natürlich auch verliebt — ein unvermeidlicher Zünd- und Nahrungs-
stoff für Dichtgelüste. Da geschah es, daß ein absolvirter Universitätshörer und kanm
bestellter Gymnasiallehrer in Kowno ein Mädchen liebte, welches ihm zwar gewogen war,
aber doch einem anderen vermählt wurde. Der unglückliche Jüngling ließ dann zwei
Bändchen Gedichte erscheinen, und — die wahre polnische Poesie war endlich da.
Adam Mickiewicz war im Dorfe Zaosie bei Nowogrödek (Lithauen) am
24. December 1798 geboren. Sein Vater besaß ein kleines Landgnt und bekleidete ein
Richteramt; er starb im Jahre 1812. In demselben fand der Zng der Napoleon'fchen
Armee durch Lithauen statt, welcher auf den Knaben Mickiewicz einen mächtigen Eindruck
machte. Die Mittelschule besuchte er in Nowogrödek, die Universität (seit 1815) in Wilna,
mit dem Vorhaben, sich dem Lehrerstande zu widmen. Hier fand er sich in Gesellschaft
von Mitschülern, die sich zu einem akademischen Verein, jenem der Filareten verbanden.
Der Verein war weder heimlich, noch politisch. Er wurde mit Wissen und Znstiimnnng der
Obrigkeit gegründet und hatte Arbeit, Wissenschaft und Tugend zum Zweck. Patriotische
Gefühle und patriotische Exaltation waren selbstverständlich da; von einer praktischen
politischen Thätigkeit, geschweige denn von einer Eonspiration war aber keine Rede. An der
Spitze der Gesellschaft stand Thomas Zan, ein junger Idealist, der Abgott dieser Wiluaer
Jugend und der theuerste Freund des Mickiewicz selbst. Gedichtet wurde ungemein viel:
Balladen, Romanzen, Sonette, Canzonen, theils im ritterlich-phantastischen, theils im
Tone der polnischen Volksdichtung. So begann auch Mickiewicz im Jahre 1819 zu dichten,
anfangs noch zum Theil im althergebrachten classischen Stile, aber immer selbständiger
und immer mehr romantisch.
Während der Ferienzeit im Jahre 1818 besuchte er mit Zan einen Frennd,
Michael Wereszczak, auf dem Lande, und lernte dort dessen Schwester, Marie, kennen.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch