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welche in der Seele einer Nation aufkommen konnten, die seit Jahrzehnten über ihr Los
empört, sich endlich zu heldenmüthigem Kampfe aufrafft und unterliegt. Je weniger sich das
patriotische Bewußtsein praktisch bethätigen konnte, desto unwiderstehlicher ergoß es sich in
die einzige Richtung, die ihm offen stand, in das geschriebene Wort. So kam es, daß die
Dichtung im Leben der Nation eine Stellung übernahm, die ihr Wesen und ihre Bestimmung
überschritt. Aber sie konnte nicht anders, sie mußte jenem Bewußtsein Genüge thun und
Ausdruck geben.
Dazu kommt noch die in der damaligen Lage und Geschichte Polens höchst bedeutsame
Thatsache der Emigration. Die besten und tüchtigsten Männer waren theils verbannt,
theils freiwillig ausgewandert, in dem trügerischen Wahn, dem Vaterlande auswärts besser
dienen zu können; die bedeutenden Schriftsteller fast alle, die Dichter ausnahmslos.
Sehnsucht, öfters Entsagung und Noth, alle möglichen religiösen, philosophischen, politischen
und socialen Systeme und Tendenzen, welche in den ohnehin gereizten Geistern und
Herzen massenhaft Zutritt finden, immer nene Irrlichter diplomatischer oder revolutionärer
Hoffnungen und Pläne: all dies mußte einen jeden insbesondere und alle insgesammt aus
dem normalen Gleichgewicht bringen. So erklären sich die begangenen politischen Fehler,
und die übermäßig große Rolle, welche der Poesie in dieser Bewegung zugewiesen war,
sowie die falsche Richtung, in welche die letztere hie und da gerieth. Der grenzenlose
patriotische Schmerz aber erklärt die unvergleichliche Begeisterung, Kraft und Wirkung dieser
Poesie. Sie wollte indeß nicht blos ein Ausdruck alles vergangenen oder gegenwärtigen
Jammers sein: sie ging jenem Trieb der polnischen Seele voran, oder eher nach, welcher
ergründen wollte, wie denn ein Unheil und ein Unrecht, gleich der Theilung Polens
erklärt werden könne, was wohl Gottes Absicht dabei gewesen sein könne, wie dieser
historische Proceß enden werde? Die Poesie wollte die Vergangenheit erklären, die
Zukunft errathen. Aus einer patriotischen wurde sie zu einer historiosophischen, hie und
da zu einer mystischen.
Die Quelle dieser Richtung bricht in der Fortsetzung der Ahnen hervor, die
Mickiewicz im Jahre 1832 geschrieben hat. Wie der frühere, so ist auch dieser Theil der
Ahnen des Dichters eigene Lebensgeschichte. Derselbe Gustav, welcher sich dort als ein
Gespenst ansah, weil er allen Gefühlen gestorben zu sein glaubte, erwacht im Gefängniß
zu neuem Bewußtsein. Er zeichnet diese Verwandlung seines Inneren auf, indem er auf
die Wand seiner Kerkerzelle die Worte: ,Obiit Kustavus, vatus est Ovnrackus" schreibt.
Die Gefangenen versammeln sich heimlich am Abend vor Weihnachten: einer von ihnen
wurde morgens zur Untersuchung durch die Straßen geführt und erzählt, was er da gesehen
hat. In eine Reihe von Kibitken wurden Gefangene gepackt und nach Sibirien fortgeschickt.
Durch die Plastik der Beschreibung und die Erhabenheit (im Schlußgebet) bezeichnet diese
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch