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echter, urwüchsiger Poesie nie ganz versiegt war, ja gerade in seiner tiefsten Erniedrigung
am ausgiebigsten und reinsten sprudelte.
Nach der türkischen Invasion (1463) verlor Bosnien jeden Zusammenhang mit
der westlichen Civilisation; es verkam geistig und materiell. Allein so schwer auch das
Joch brutaler Fremdherrschaft auf ihr lastete, war wenigstens die christliche Naja nie
vollständig verstummt. Der gepressteu Volksseele entrangen sich immer wieder jene
ebenso ergreifende» als herrlichen Klagelieder, welche, von freundlichen Feen von Weiler
zu Weiler getragen, die Eriuueruugeu au eine schönere Vergangenheit wach erhielten
und den Glauben an eine bessere Zukunft befestigten. Selbstverständlich verherrlichten
auch die slavischen Mohammedaner Bosniens ihre häufigen Kriegszüge gegen die benach-
barten Länder in Heldengesängen, welche bereits aufgesammelt und zum Theile auch
schon publieirt sind. Sie bilden die liebste Leetüre in den Kaffeehäusern; findet sich ein
Vorleser, dann lassen in der Regel auch die leichtlebigsten Juugeu ab vom Spiele, nnd
manchem Graubart geht der Cibuk aus, ein gewiß nicht zu unterschätzender Triumph der
im Volksliede verkörperten Schönheit.
Die den Anhängern aller Glaubensbekenntnisse gemeinsame Lyrik, welche für jede
Regnng des Gemüthes ihre eigenen süßen Melodien findet, beweist, daß die Bosnier
und Hereegoviner trotz ihrer religiösen Fehden nie aufgehört haben, sich als eine und
dieselbe Nation zu fühlen. Ihre Jahrhunderte hindurch währende Abgeschlossenheit nach
Außen hatte zur Folge, daß sich einerseits die Sprache in ihrer ursprünglichen Reinheit
erhielt, anderseits aber ihre traditionelle Literatur im Auslande so spät bekannt wurde.
Die gebildete Welt war denn anch förmlich verblüfft, als sie durch Vuk Stefauovie-
Karadzie die erste Kunde von diesem einzig schönen Liederschatze erhielt. Neben und uach
Karadzic haben zahlreiche Sprachforscher und Sammler in diesen Ländern unermeßliche
Schätze des Volksgeistes zu Tage gefördert, ohne die noch immer frisch sprndelnden Quellen
zu erschöpfen.
Nicht wenig zur begeisterten Anerkennung dieser Lieder trug der glückliche Zufall
bei, daß deren Übertragung in andere Sprachen überwiegend geniale Übersetzer besorgten,
und daß der greise Goethe, der selbst seine schönsten lyrischen Gedichte der Volksseele
abgelauscht hatte, ihren Ruhm mit Feuereifer verbreitete.
Viel früher und mächtiger wirkte diese Poesie auf die benachbarten Slaven, in
erster Linie auf Dalmatieu und hier wieder auf Ragusa, dessen wichtigste Handelsstraße
die Hereegoviua uud Bosnien durchquerte. Diese Berührung mag wohl das Meiste dazu
beigetragen haben, daß sich in Dalmatien trotz des Einflusses der damals in Enropa
maßgebenden italienischen Cultur eine slavische Literatur entwickelte und durch Jahr-
hunderte blühte, so daß Ljndevit Gaj, als er daran ging, das tiefgesunkene kroatische
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Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Bosnien und Herzegowina, Volume 22
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Bosnien und Herzegowina
- Volume
- 22
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1901
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 15.34 x 22.94 cm
- Pages
- 536
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch