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Im Kontext des Lernens und Lehrens mit neuen Technologien werden insbesondere Theoriebildung und
Forschungsergebnisse der Genderforschung in der Technik rezipiert. Auf die Zusammenhänge von Gender
und Technologie wird daher auch schwerpunktmäßig in der Folge eingegangen.
Bis in die späten 1980er Jahre war das Konzept des technologischen Determinismus das vorherrschende
Modell in der Gender- und Technologiedebatte. In dieser mittlerweile in den Sozial- und Kommunikations-
wissenschaften als überholt angesehenen Theorieströmung wird davon ausgegangen, dass Technik soziale,
politische und kulturelle Veränderungen beziehungsweise Anpassungen nach sich zieht und dass sozialer
und kultureller Wandel eine Folge technologischer Entwicklungen seien. Die feministische Forschung in
der Tradition der Gleichheitsansätze konzentrierte sich dabei primär auf die Fragestellungen dahingehend,
wie technologische Entwicklungen Gender-Hierarchien reproduzieren können. Der Tenor ging weitgehend
in die Richtung pessimistischer Einschätzungen im Hinblick darauf, dass Frauen Raum im Bereich der
männlich dominierten und patriarchal organisierten Technologie zugestanden werden könnte. Technologie
wurde primär als eine negative Kraft betrachtet, die Geschlechterhierarchien vielmehr reproduziert und da-
mit eine weitere Verfestigung der strukturellen Benachteiligung von Frauen fördert, als zu einer Transfor-
mation der Geschlechterverhältnisse beizutragen.
Diese negative Sichtweise der Bedeutung von Technologien für die Geschlechterfrage wich in der wei-
teren Entwicklung feministischer Theorien positiveren Vorstellungen, die sich insbesondere der Betrach-
tung von Frauen als Opfer der gesellschaftlich-technischen Gegebenheiten entgegenstellten. Die bahnbre-
chenden Arbeiten von Haraway (1991), die in ihrem „A Cyborg Manifesto“ dazu ermutigt und auffordert,
das positive Potential von Technologien wahrzunehmen, sind kennzeichnend für diese Perspektivenände-
rung in der Gender- und Technologiedebatte. Im Kontext neuer Technologien wird hier insbesondere auf
Möglichkeiten hingewiesen, die das Internet für die Exploration von oder das Experimentieren mit neuen
und anderen Aspekten des Selbst bieten kann (Turkle, 1995).
Das Verständnis von Technologie als soziale Konstruktion („Social Construction of Technology“, Pinch &
Bijker, 1985) kann als impulsgebend für die feministische Forschung angesehen werden. Es wird davon
ausgegangen, dass nicht die Technologie das menschliche Handeln bestimmt, sondern dass das menschliche
Handeln die Technologie bestimmt. Die Art und Weise, wie Technologie verwendet wird, kann nicht ohne
den sozialen Kontext, in den sie eingebettet ist, verstanden werden. Vertreter/innen dieser Theorie gehen
davon aus, dass Technologie deshalb „funktioniert“ beziehungsweise „nicht funktioniert“, weil sie von be-
stimmten sozialen Gruppen akzeptiert beziehungsweise nicht akzeptiert wird. Zentral aus der Genderper-
spektive ist hier das Konzept der interpretativen Flexibilität; das bedeutet, dass Technologien bei unter-
schiedlichen sozialen Gruppen unterschiedliche Bedeutungen haben können. So kann Lerntechnologie für
Lernende eine Bedingung darstellen, die Partizipation an Lernprozessen überhaupt erst ermöglicht. Für
Lehrende wiederum kann die Möglichkeit einer qualitativen Verbesserung von Lehr-/Lernprozessen im
Vordergrund stehen, während auf strategischer Ebene die Notwendigkeit des Reüssierens am (Weiter-) Bil-
dungsmarkt im Vordergrund stehen kann.
Derartige „relevante soziale Gruppen“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein gleiches (beziehungswei-
se zwischen den Gruppen divergierendes) Verständnis der Bedeutung der Technologie haben. Dieses Ver-
ständnis ist dafür bestimmend, wie die Technologie gestaltet wird. Designentscheidungen orientieren sich
so an den jeweiligen Kriterien der spezifischen Gruppen. Beim oben genannten Beispiel könnten dies ne-
ben einer Vielzahl anderer Kriterien für die Lernenden die Eignung für mobile Applikationen, für Lehrende
die Möglichkeit, didaktische Funktionalitäten abzubilden, und Adaptierbarkeit sein. Auf Ebene der Organi-
sation wiederum können Servererfordernisse oder auch die Anbindungsmöglichkeit an die hauseigenen
Verwaltungssysteme die relevanten Kriterien sein. Wenn Technologien also in unterschiedlichen sozialen
Gruppen jeweils unterschiedliche Bedeutungen haben, gibt es folglich auch entsprechend viele unterschied-
liche Arten, Technologien zu gestalten. Diese Sichtweise impliziert eine Sichtweise des Prozesses der Tech-
nikgestaltung als grundsätzlich verhandelbar und offen. Sehr schön zu beobachten war dieser Aushand-
lungsprozess in der Entwicklungsgeschichte von Lernplattformen, die ursprünglich sehr stark an der Tech-
nik orientiert waren, und bei denen erst in einem zweiten Entwicklungsstadium didaktische Aspekte ver-
stärkt in den Vordergrund gestellt wurden.
Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass die „relevanten sozialen Gruppen“, die in Verhand-
lungen beziehungsweise Kontroversen im Hinblick auf eine neue Technologie treten, derzeit noch nur zu
einem geringen Teil aus Frauen bestehen und damit tendenziell eine genderspezifische Analyse nicht statt-
findet, entsteht hier ein Verständnis von Technologie, das entscheidend durch die sozialen Umstände sowie
Gegebenheiten und damit natürlich auch durch die Geschlechterverhältnisse geprägt wird, in denen die
Technologie entsteht.
L3T
Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien
- Title
- L3T
- Subtitle
- Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien
- Editor
- Martin Ebner
- Sandra Schön
- Publisher
- epubli GmbH
- Location
- Berlin
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 3.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 594
- Keywords
- L3T, online
- Category
- Lehrbücher
Table of contents
- Einleitung 1
- Einführung 11
- Von der Kreidetafel zum Tablet 27
- Die Geschichte des WWW 39
- Hypertext 51
- Geschichte des Fernunterrichts 65
- Informationssysteme 75
- Webtechnologien 89
- Multimediale und interaktive Materialien 99
- Standards für Lehr- und Lerntechnologien 109
- Human-Computer-Interaction 117
- Didaktisches Handeln 127
- Medienpädagogik 139
- Systeme im Einsatz 147
- Kommunikation und Moderation 157
- Forschungszugänge und -methoden 167
- Planung und Organisation 177
- Literatur und Information 185
- Die „Netzgeneration“ 201
- Multimedia und Gedächtnis 209
- Mobiles und ubiquitäres Lernen 217
- Prüfen mit Computer und Internet 227
- Blogging und Microblogging 239
- Vom Online-Skriptum zum E-Book 249
- Educasting 257
- Game-Based Learning 267
- Einsatz kollaborativer Werkzeuge 277
- Offene und partizipative Lernkonzepte 287
- Qualitätssicherung im E-Learning 301
- Offene Lehr- und Forschungsressourcen 311
- Lernen mit Videokonferenzen 319
- Simulationen und simulierte Welten 327
- Barrierefreiheit 343
- Genderforschung 355
- Zukunftsforschung 363
- Kognitionswissenschaft 373
- Diversität und Spaltung 387
- Lern-Service-Engineering 397
- Medientheorien 405
- Das Gesammelte interpretieren 413
- Wissensmanagement 421
- Sieht gut aus 427
- Urheberrecht & Co. in der Hochschullehre 435
- Interessen und Kompetenzen fördern 445
- Spielend Lernen im Kindergarten 455
- Technologieeinsatz in der Schule 465
- Technologie in der Hochschullehre 475
- Fernstudium an Hochschulen 483
- Webbasiertes Lernen in Unternehmen 489
- E-Learning in Organisationen 497
- Erwachsenen- und Weiterbildung 507
- Freie Online-Angebote für Selbstlernende 515
- Sozialarbeit 525
- Human- und Tiermedizin 531
- Online-Labore 539
- Mehr als eine Rechenmaschine 547
- Bildungstechnologien im Sport 557
- Fremdsprachen im Schulunterricht 569