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wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung der in der Praxis Tätigen, für die
in erster Linie die Erziehungswissenschaft zuständig ist.
Das Problem der Normativität
Eng mit dem Status der Erziehungswissenschaft als praxis- und anwendungs-
bezogener Disziplin verbunden ist schließlich auch ihre Stellung zu der wis-
senschaftstheoretischen Gretchenfrage Wie hältst du’s mit der Normativität?.
Hier stehen sich anscheinend Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit und
die an die Erziehungswissenschaft gerichtete Erwartung, handlungsorientie-
rendes Wissen zur Verfügung zu stellen, unvereinbar gegenüber. Aus der zu-
erst genannten Perspektive betrachtet steht die erziehungswissenschaftliche
Bildungsforschung vor der Aufgabe, wie jede andere empirische Forschung
auf die Formulierung normativer (Sollens-)Aussagen zu verzichten und sich
auf deskriptiv-analytische (Seins-)Aussagen zu beschränken. In der anderen
Hinsicht gilt ein völliger Verzicht dieser Art als unmöglich und ist deshalb von
erziehungswissenschaftlicher Forschung zu erwarten, dass sie sich – ähnlich
wie z.B. Ethik und praktische Philosophie – an der (methodisch reflektierten)
Klärung und Diskussion normativer Fragen aktiv beteiligt.3
Die erstgenannte Position wurde bekanntlich von Wolfgang Brezinka ver-
treten, der die Beschränkung der Erziehungswissenschaft auf (empirisch ge-
wonnene) deskriptiv-analytische Aussagen propagiert und die strikte Tren-
nung der (empirischen) Erziehungswissenschaft von Erziehungsphilosophie
und praktischer Pädagogik gefordert hat (Brezinka 1978). In ähnlicher Weise
plädiert Felicitas Thiel für eine Selbstbeschränkung der Erziehungswissen-
schaft auf methodisch kontrollierte Befunde. Diese Beschränkung ergibt sich
ihr zufolge aus der Differenz wissenschaftlichen Argumentierens zu anderen
Aussageformen wie „normativen Ideen, konkreten Interessen und sachlogi-
schen Zwängen“, mit denen wissenschaftliche Befunde in öffentlichen Debat-
ten über Bildung und Erziehung (und bei professionellen Entscheidungen) un-
vermeidlich konkurrierten (Thiel 2018: 40). Die Aufgabe wissenschaftlicher
3 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei betont, dass die Begriffe normativ bzw. Normativi-
tät hier in einem weiten Sinn verwendet werden, der jegliche Art von Sollensaussagen um-
fasst und nicht im engeren Sinn einer Suche nach der Letztbegründung entsprechender Kri-
terien zu verstehen ist. Wie Jörg Ruhloff (1979) in seiner Auseinandersetzung mit entspre-
chenden Ansätzen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, der empirischen und der kri-
tisch-emanzipatorischen Erziehungswissenschaft gezeigt hat, sind solche Letztbegründungs-
versuche stets von der Gefahr dogmatischer Setzungen bedroht. Stattdessen geht es im Fol-
genden nur um Versuche, Kriterien bzw. Normen argumentativ, aber im Bewusstsein der
unvermeidlichen Begrenztheit und Relativität der eigenen Position zu begründen.
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book Lernprozesse über die Lebensspanne - Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern"
Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Title
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Subtitle
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Authors
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Editor
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Size
- 14.7 x 21.0 cm
- Pages
- 190
- Category
- Lehrbücher