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Hans-Joachim Sander | Gebrochenes Ver(-)sprechen
keit erfährt, reagieren andere auf das Offenbarwerden einer Scham nicht
mit Respekt. Man distanziert sich eher, um nicht angesteckt zu werden.
Während Schuld die Souveränität einer Person antastet und durchlöchert,
die sich ihr aber deshalb aus eigener Freiheit stellen kann, um sich zu ver-
bessern und so aus den nagenden Verfehlungen zu befreien, kippt Scham
die Souveränität einer Person derart um, dass keine innere Befreiung von
diesem Problem oder der ihr zugrunde liegenden Erfahrung weiterhilft,
sondern nur die öffentliche Unterwerfung unter den unwiederbringlichen
Verlust der Souveränität. Wer sich schämt, muss daher stets befürchten,
dass etwas ruchbar wird, was die eigene Person in ständigen Misskredit
bringt. Das gilt für die Opfer auch dann, wenn der Grund dafür klar in der
Schuld von Tätern zu suchen ist. Ganz anders ist es bei der Schuld, die vom
eigenen Inneren her lediglich peinigt, sich zu entsühnen, also die Schuld zu
überwinden und sich zu entschuldigen. Das „lediglich“ ist hier angebracht,
weil die Ohnmacht der Scham weit dorniger ist als jene der Schuld. Selbst
in der hochkirchlichen Liturgie wird Schuld glücklich gepriesen, während
Scham, obwohl biblisch sehr präsent (dazu jetzt angekündigt: Grund-Wit-
tenberg/Poser 2018) und liturgisch sehr wohl diskret bedeutsam (Fechtner
2015), nicht angesprochen wird.
Es gibt wegen dieser scharfen Differenz von Scham und Schuld den
Vorschlag, damit kulturelle Muster zu unterscheiden, die sich beide auf das
öffentliche wie private, das politische wie das wirtschaftliche Verhalten bis
in die Kapillare hinein auswirken. So hat Ruth Benedict nach dem Zweiten
Weltkrieg vorgeschlagen, Scham- von Schuldkulturen zu unterscheiden
(Benedict 2006). Das war damals keine abstrakte Überlegung, sondern aus
der Not geboren. Es speiste sich aus der Überraschung der USA, wie ex-
trem anders Japaner kämpften, wie gnadenlos sie in Siegen verfuhren, aber
auch wie schnell sie sich mit der endgültigen Niederlage abfanden und neu
anfingen. Benedict gehörte zu denen, die das ethnologisch und intellektuell
aufarbeiten und erklären sollten; das war alles andere als leicht, standen
doch während des Krieges keine Möglichkeiten für Feldforschung zur Ver-
fügung. Gleichwohl war Benedict für diese Aufgabe wie prädestiniert, weil
sie schon zuvor in New York die relative Bedeutung von patterns of culture,
kulturellen Verhaltensmustern, erkannt hatte. Diese Muster lassen sich
nicht überall feststellen, so als gäbe es eine für alle Menschen gemeinsam
Anhand der scharfen Differenz von Scham und Schuld
lassen sich kulturelle Muster unterscheiden.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven