Page - 95 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
Image of the Page - 95 -
Text of the Page - 95 -
95 | www.limina-graz.eu
axel Bernd Kunze | staat â IdentitĂ€t â recht
zen grundsĂ€tzlich delegitimiert wĂŒrden, damit aber auch die Ordnungs-
funktion des Staates: âIm normativen Individualismus sind die Rechte und
das Wohlergehen einzelner Personen der letzte Referenzpunkt ethischer
Urteile. Belange von Völkern oder Staaten sind demgegenĂŒber nachrangig
oder nicht beachtenswertâ (Schwienhorst-Schönberger 2018, 330â331). In
der Folge werde durch eine solche Argumentation auch das Handeln sol-
cher staatlicher Institutionen infrage gestellt, die gerade dem Schutz der
Person und ihrer Rechte dienen sollten â und dann auch humanitĂ€res Han-
deln ermöglichten.
2015 wandte sich eine Reihe höherer Ordensoberer und Ordensoberinnen
an den bayerischen MinisterprÀsidenten, Horst Seehofer, und sprach sich
âfĂŒr ein menschenfreundliches Engagement fĂŒr GeflĂŒchteteâ aus. Der Brief
dokumentiert eine deutliche Polarisierung der migrationsethischen Debat-
te. Mit der Formulierung âmit brennender Sorgeâ â in Anspielung auf die
gleichnamige Enzyklika von Pius XI. aus dem Jahr 1937 â scheuten seine
Verfasser keineswegs davor zurĂŒck, demokratische Politiker in eine NĂ€he
zum Nationalsozialismus zu rĂŒcken. Am Ende des offenen Briefes heiĂt es:
âAbschottungen, Grenzen und Begrenzungen sind fĂŒr uns keine Lösung.
KreativitÀt, guter Wille und eine MentalitÀt, die dem Teilen mehr zutraut
als der Sorge um das eigene Wohlergehen, sind fĂŒr uns zukunftsweisende
Wege, fĂŒr die wir uns einsetzenâ (Deutsche Ordensobernkonferenz 2015).
Der Brief kann als sprechendes Beispiel fĂŒr vorstehend benannten norma-
tiven Individualismus gelesen werden: Individuelle Haltungen sollen zum
MaĂstab fĂŒr politisches Handeln werden. Interessen des eigenen Volkes
werden negiert. ParÀnese ersetzt die sozialethische Reflexion. Eine Sozi-
alethik, die so argumentiert, könnte im grundlegenden Sinne als âunpoli-
tischâ charakterisiert werden: als eine Sozialethik, die nichts mehr zu sagen
weiĂ ĂŒber Staat und StaatsrĂ€son, Nation und IdentitĂ€t oder Grenzsicherung
und staatliche SouverÀnitÀt. Diese Entwicklung gefÀhrdet nicht allein ein
kooperatives Staat-Kirche-VerhÀltnis, sondern wird auf Dauer auch zu
einem deutlichen Relevanzverlust christlicher Sozialethik und Sozialver-
kĂŒndigung fĂŒhren, weil zentrale Themen der staatsethischen Debatte aus-
geblendet bleiben.
Schon jetzt gibt es Klagen von Kirchenvertretern, das politische Klima
gegenĂŒber den Kirchen werde rauer. Die Ursachen hierfĂŒr sind vielfĂ€ltig.
Eine Sozialethik, die als innerkirchliches Korrektiv ebenso eine Sozial-
Sollen individuelle Haltungen zum MaĂstab fĂŒr politisches Handeln werden?
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven