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axel Bernd Kunze | staat – Identität – recht
zen grundsätzlich delegitimiert würden, damit aber auch die Ordnungs-
funktion des Staates: „Im normativen Individualismus sind die Rechte und
das Wohlergehen einzelner Personen der letzte Referenzpunkt ethischer
Urteile. Belange von Völkern oder Staaten sind demgegenüber nachrangig
oder nicht beachtenswert“ (Schwienhorst-Schönberger 2018, 330–331). In
der Folge werde durch eine solche Argumentation auch das Handeln sol-
cher staatlicher Institutionen infrage gestellt, die gerade dem Schutz der
Person und ihrer Rechte dienen sollten – und dann auch humanitäres Han-
deln ermöglichten.
2015 wandte sich eine Reihe höherer Ordensoberer und Ordensoberinnen
an den bayerischen Ministerpräsidenten, Horst Seehofer, und sprach sich
„für ein menschenfreundliches Engagement für Geflüchtete“ aus. Der Brief
dokumentiert eine deutliche Polarisierung der migrationsethischen Debat-
te. Mit der Formulierung „mit brennender Sorge“ – in Anspielung auf die
gleichnamige Enzyklika von Pius XI. aus dem Jahr 1937 – scheuten seine
Verfasser keineswegs davor zurück, demokratische Politiker in eine Nähe
zum Nationalsozialismus zu rücken. Am Ende des offenen Briefes heißt es:
„Abschottungen, Grenzen und Begrenzungen sind für uns keine Lösung.
Kreativität, guter Wille und eine Mentalität, die dem Teilen mehr zutraut
als der Sorge um das eigene Wohlergehen, sind für uns zukunftsweisende
Wege, für die wir uns einsetzen“ (Deutsche Ordensobernkonferenz 2015).
Der Brief kann als sprechendes Beispiel für vorstehend benannten norma-
tiven Individualismus gelesen werden: Individuelle Haltungen sollen zum
Maßstab für politisches Handeln werden. Interessen des eigenen Volkes
werden negiert. Paränese ersetzt die sozialethische Reflexion. Eine Sozi-
alethik, die so argumentiert, könnte im grundlegenden Sinne als ‚unpoli-
tisch‘ charakterisiert werden: als eine Sozialethik, die nichts mehr zu sagen
weiß über Staat und Staatsräson, Nation und Identität oder Grenzsicherung
und staatliche Souveränität. Diese Entwicklung gefährdet nicht allein ein
kooperatives Staat-Kirche-Verhältnis, sondern wird auf Dauer auch zu
einem deutlichen Relevanzverlust christlicher Sozialethik und Sozialver-
kündigung führen, weil zentrale Themen der staatsethischen Debatte aus-
geblendet bleiben.
Schon jetzt gibt es Klagen von Kirchenvertretern, das politische Klima
gegenüber den Kirchen werde rauer. Die Ursachen hierfür sind vielfältig.
Eine Sozialethik, die als innerkirchliches Korrektiv ebenso eine Sozial-
Sollen individuelle Haltungen zum Maßstab für politisches Handeln werden?
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 2:1
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 2:1
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 194
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven