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axel Bernd Kunze | staat – Identität – recht
ethik kirchlichen Lebens einschließen sollte, müsste allerdings gleichfalls
selbstkritisch fragen, wie die Kirchen hierzu möglicherweise selbst beitra-
gen, etwa durch ethische Maximalforderungen, bei denen die bleibend not-
wendige Sorge um die staatspolitischen Grundlagen eines Gemeinwesens
aus dem Blick gerät. Diese sind kein fester Besitzstand; sie müssen immer
wieder politisch gesichert und verteidigt werden. Wo dies nicht mehr ge-
sehen wird, kann aus der kirchlichen Sozialverkündigung ein unernst wir-
kender Gestus prophetischer Kritik werden, der ohne vernunftgeleitete
Übersetzung am Ende seine politische Wirksamkeit einbüßen muss – im
Migrationsdiskurs zeigen sich schon jetzt Anzeichen, die in diese Richtung
weisen:
„[I]n einer Reihe kirchlicher und theologischer Stellungnahmen […]
wurden klassische Prinzipien wie die Anwendung der Vorzugsregeln, die
Unterscheidung von sittlich gutem Willen und sittlich richtiger Tat, die
Abwägung nicht-sittlicher Güter im Rahmen teleologischer Normen-
begründungen sowie die differenzierte Wahrnehmung und Erörterung
eines vielstimmigen biblischen Zeugnisses nicht oder nur kaum the-
matisiert“ (Schwienhorst-Schönberger 2018, 336; vgl. ausführlich
336–339).
Wo die Differenz zwischen biblisch-kirchlicher Lehre und deren politischen
Implikationen reduziert wird und beide vorschnell in eins gesetzt werden,
droht der diskursive Charakter theologischer Ethik verloren zu gehen. Die
christliche Botschaft ist politisch, aber nicht parteipolitisch. Christen en-
gagieren sich in einem weiten demokratischen Spektrum links wie rechts
der Mitte. Denn unter Christen darf es unterschiedliche Positionen zu po-
litischen Fragen geben, darf über politische Streitfragen politisch disku-
tiert werden und muss um das rechte politische Handeln mitunter hart
gerungen werden. Angesichts der kontrovers geführten Migrations- und
Integrationsdebatte zeigen sich stattdessen Ansätze zu einem neuerlichen
katholischen Integralismus oder auch Biblizismus; Letzteres etwa dort,
wo die Heilige Familie als politische Flüchtlinge nach Ägypten gezeichnet
wird (vgl. z. B. Lau 2018, 224–226). Das Evangelium stemmt sich mit der
bekannten matthäischen Formel aus Mt 22,21 politischen Heilslehren ent-
gegen, die sich selbst absolut setzen. Aber es ‚liefert‘ umgekehrt auch kein
umfassendes göttliches Gesetz. Niemand sollte in der Kirche vorschnell be-
Die christliche Botschaft ist politisch, aber nicht parteipolitisch.
Christen engagieren sich in einem weiten demokratischen Spektrum.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven