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axel Bernd Kunze | staat â IdentitĂ€t â recht
haupten, er wĂŒsste schon im Voraus ganz genau, was politisch praktizierte
Christlichkeit zu sein habe. Vielmehr eröffnet das Evangelium den Raum
fĂŒr eine Politik aus christlicher Verantwortung, die im politischen Diskurs
Kontur gewinnt und eine Verschiedenartigkeit sÀkularer Gesetze zulÀsst.
3. IdentitÀtspolitische VerÀnderungen im gemeinsamen Zusammenleben
Der Verlust staatlichen Denkens in der sozialethischen Debatte bleibt nicht
folgenlos. Daniel Deckers hat die identitÀtspolitischen Folgen in einem
Leitartikel fĂŒr die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. MĂ€rz 2017 so auf
den Punkt gebracht: In kirchlichen Stellungnahmen âwerden das GefĂŒhl
des Heimatverlustes und die politisch-sozialen wie kulturell-religiösen
Konfliktpotentiale einer Einwanderungsgesellschaft kleingeredet, wenn
sie nicht gar geleugnet werdenâ (Deckers 2017, 1).
Gesellschaft, Kultur oder IdentitĂ€t seien nichts Statisches â dieser Allge-
meinplatz wird sozialethisch schnell als Einwand ins Feld gefĂŒhrt, wenn
Sorge um eine gefÀhrdete IdentitÀt des Staatsvolkes und seiner kulturellen,
sprachlichen oder moralischen Grundlagen aufscheint. Doch wer als An-
geklagter vor Gericht steht, was niemandem zu wĂŒnschen ist, wird darauf
vertrauen wollen, dass das âVolkâ, in dessen Namen Recht gesprochen wird,
kein beliebig austauschbares Narrativ ist, sondern er sich auf tragfÀhige
kulturelle Werte verlassen kann. Sollte jemand als Beamter darauf vertrau-
en, dass er auch im Ruhestand auskömmlich leben kann, wird er sich sicher
wĂŒnschen, dass dieses âVolkâ, das seinen Beamten gegenĂŒber LoyalitĂ€t zu-
gesichert hat, kein beliebig austauschbares Narrativ ist, sondern eine bere-
chenbare GröĂe bleibt, die sich spĂ€ter auch an einmal gegebene Pensions-
zusagen erinnert. Weitere Beispiele lieĂen sich finden.
IdentitÀt unter Generalverdacht zu stellen, ist sozialpsychologisch unrea-
listisch und unfreiheitlich. Feste IdentitÀten gefÀhrden das Zusammenle-
ben weniger als ein Zustand erzwungener Gleichheit oder Vereindeutigung.
Eine Gesellschaft, die Toleranz nur mehr ĂŒber die Kontrolle von Gesinnun-
gen, denen bestehende Ungleichheit oder kulturelle Differenzierungen zu
Bewusstsein kommen könnten, aufrecht zu erhalten versucht, wÀre re-
pressiv und alles andere als lebenswert.
Feste IdentitÀten gefÀhrden das Zusammenleben weniger als
ein Zustand erzwungener Gleichheit oder Vereindeutigung.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven