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axel Bernd Kunze | staat – Identität – recht
Was wir brauchen, ist ein intelligent gefĂĽhrter Kampf gegen Ausgrenzung.
Dieser wird verhindert, wenn Begrenzungen grundsätzlich unter General-
verdacht gestellt werden. Notwendig sind Kategorien und normative Kri-
terien, mit denen Unterscheidungen möglich bleiben: Was sind ungerechte
AusschlieĂźungen? Was sind erhaltenswerte Formen der Differenzierung?
Was sind repressive Praktiken? Was sind lebensdienliche Ausdrucksformen
persönlicher oder sozialer Identitätsbildung? Die Ausbildung einer Iden-
tität, die ihn von anderen unterscheidet, ist für den Menschen lebensnot-
wendig. Andernfalls könnte es auch keine Individualität geben. Ordnungen,
die darauf zielten, alle Menschen gleich zu machen, waren in der Geschich-
te immer Ordnungen der Unfreiheit.
Europäische Kultur gründet auf drei Hügeln: Areopag, Kapitol und Gol-
gatha – ein Bild, das auf den ersten deutschen Bundespräsidenten, Theo-
dor HeuĂź, zurĂĽckgeht. Das griechische Erbe steht fĂĽr die Selbstregie
-
rung freier BĂĽrger und die Anerkennung einer vernunftgeleiteten, auto-
nomen Wissenschaft. Das römische Erbe zeigt sich im Gedanken einer
Herrschaft des Rechts. Beides wird geformt durch die christliche Haltung
der Solidarität und Barmherzigkeit sowie die Anerkennung einer gleichen
WĂĽrde aller Menschen. Alle drei EinflĂĽsse verbinden sich zu dem, was wir
als christliches Abendland kennen. Produktiv wurde diese Idee nicht zu-
letzt durch die spannungsvolle Polarität von politischer und religiöser
Sphäre bei gleichzeitiger Kooperation beider Gewalten – gemäß der schon
erwähnten, unnachahmlichen Formel: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers
ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21). Der Kampf um das rechte Ver-
hältnis von Religion und Politik durchzieht die gesamte Geschichte unseres
Kulturraumes: vom Investiturstreit über die Reformation und die Aufklä-
rung bis zur Gründung säkularer Nationalstaaten – um nur einige Statio-
nen zu nennen.
Richtig verstanden, verbieten sich damit sowohl politische Heilslehren als
auch voreilige Gewissheiten von Seiten der Kirche in vorletzten, politischen
Dingen. Wenn Christen sich politisch zu Wort melden, muss dies sachkun-
dig geschehen. Wer den politischen Streit ĂĽber die kĂĽnftige Rolle des Staa-
tes, den Umgang mit Zuwanderung oder das angemessene Verständnis von
Integration gerade mit sozialethischen Argumenten unterbindet, gerät in
Gefahr, entweder die Religion fĂĽr (partei-)politische Zwecke zu funktio-
nalisieren oder ohne Not staatspolitische Kontroversen zu dogmatisieren
„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 194
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven