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Richard Sturn | Generationengerechtigkeit, Generationenvertrag und Entsolidarisierung
Tell me, my daughters,
Since now we will divest us both of rule,
Interest of territory, cares of state,
Which of you shall we say doth love us most?
That we our largest bounty may extend
Where nature doth with merit challenge.
Shakespeare, King Lear
Generationengerechtigkeit und die Grenzen des Individualismus
Die Frage der Generationengerechtigkeit stellt die normative Theorie vor
Grundlagenprobleme. Besonders klar treten diese zutage, wenn ein indi-
vidualistischer (insbesondere vertragstheoretischer) Ansatz verfolgt wird.
Entsprechende Probleme werden etwa sichtbar, wenn Denkfiguren aus dem
Bereich der kommutativen Gerechtigkeit in Verhältnisse zwischen Gene-
rationen transponiert werden – und auch dann, wenn Prinzipien aus dem
Bereich distributiver Gerechtigkeit in dieser Weise erweitert werden. Zum
einen ist es klar, dass Menschen, die noch nicht geboren sind, ihre Inter-
essen in heutigen Aushandlungsprozessen selbst nicht einbringen können.
Es bedarf daher theoretischer und praktischer Konzepte einer advokatori-
schen Interessenvertretung. Zum anderen stellt sich in einer von raschem
Wandel geprägten Welt und angesichts der Wirkmacht von Prinzipien in-
dividueller Selbstbestimmung das Problem, dass wir ja im Rahmen einer
solchen advokatorischen Interessenvertretung nicht genau wissen, worin
die Interessen zukünftiger Generationen bestehen und wie wir diese am
besten vertreten.
Freilich kann man fordern, dass wir so handeln sollten, dass zukünftige
Generationen möglichst viele Optionen haben, ihr Leben nach selbstbe-
stimmten Lebensentwürfen zu gestalten. Aber hier zeigt uns gerade der in
gewisser Weise minimalistische effizienztheoretische Rahmen der nor-
mativen Ökonomik, dass auch derartige Überlegungen bei ihrer Konkre-
tisierung in komplexe Abwägungen hineinführen: Denn es wäre beispiels-
weise wohl nicht im Sinne zukünftiger Generationen, wenn wir das Prinzip
verfolgten, heute überhaupt nichts zu tun, was zukünftige Optionenräu-
me beeinflusst – oder uns auf möglichst wenig festzulegen, sondern im-
Eine Interessenvertretung für Menschen, die noch nicht geboren sind
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven