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Richard Sturn | Generationengerechtigkeit, Generationenvertrag und Entsolidarisierung
mer nur Potentiale zu entwickeln, deren konkrete Entfaltung immer auf
später aufgeschoben wird. Menschen und Gesellschaften entwickeln sich
weiter, indem sie Potentiale aktualisieren. Das heißt, wir werden immer
konkrete Straßen und Brücken bauen, ohne genau zu wissen, welche Wege
zukünftige Generationen gehen werden und ob und an welcher Stelle zu-
künftige Generationen Straßen und Brücken haben möchten. Wir werden
ein konkretes Bildungswesen entwickeln, ohne genau zu wissen, welches
Bildungswesen sie für gut befinden würden. Anders ist die Entwicklung
menschlicher Gesellschaften nicht vorstellbar. Entwicklung ist nun einmal
pfadabhängig. Etwas zu investieren heißt eben immer auch, bestimmte
Pfade der Entwicklung zu bahnen und zu beschreiten – und andere nicht.
Dies impliziert, bestimmte künftige Verzweigungen des Pfads zu ermögli-
chen und andere auszuschließen. Wir können nicht aus der Pfadabhängig-
keit aussteigen. Allerdings bedeutet Letzteres keinen Determinismus, weil
jeder Pfad normalerweise zu weiteren Verzweigungen führt. In diesem Sinn
gilt es, eine normative Heuristik zu entwickeln, welche die für individualis-
tische Ansätze typische Offenheit mit übergreifenden Vorstellungen vom
guten, menschengerechten Leben in Abwägung bringt.
Was lehrt uns dies? Die Frage nach der Gerechtigkeit zwischen den Genera-
tionen führt uns nolens volens über eine rein individualistische Perspekti-
ve hinaus. Auch wenn wir Individualismus und Selbstbestimmung so hoch
halten, wie es sinnvoller Weise möglich ist, so sehen wir uns doch Zusam-
menhängen gegenüber, die theoretisch und praktisch nur durch Konzepte
zu bewältigen sind, die Kontinuitäten über das einzelne Individuum hinaus
und – damit verbunden – Elemente von Gemeinschaft einschließen, wel-
che gerade dann schon vorausgesetzt werden müssen, wenn wir die indi-
viduellen Perspektiven gegenüber bestimmten Aspekten unseres Zusam-
menlebens ernst nehmen.
Wir können individuelle Ansichten darüber haben, wie unsere Kinder ge-
fördert und gebildet werden sollten, aber diese setzen typischerweise be-
stimmte Vorstellungen gemeinschaftlichen Zusammenlebens voraus. Die
sozio-kulturelle Reproduktion einer Gesellschaft ist keine Angelegenheit,
die sich in voraussetzungsfreie individuelle Präferenzen auflösen ließe. An-
ders gesagt: Individuelle Akteure haben Vorstellungen und vielleicht sogar
„Präferenzen“ im Hinblick auf sozio-kulturell relevante Aspekte unseres
Die Frage nach der Gerechtigkeit zwischen den Generationen
führt über eine rein individualistische Perspektive hinaus.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven