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Martina Schmidhuber | Mehr-Generationen-Wohnen als Zukunftsmodell
Einsamkeit gilt neuesten Studien zufolge als Krankheit: „Eine Krankheit,
die das Aufkommen anderer Leiden begünstigt, von Erkältungen über
Depressionen und Demenz bis hin zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und
Krebs“, konstatiert der Psychiater Manfred Spitzer in seinem Buch Ein-
samkeit – die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich (2018,
10). Auch von soziologischer Seite kommt Kritik an einsam-machenden,
individualisierten Lebenswelten:
„Wer wollte sich wundern, dass aus solchen Wohnformen Depressionen,
Burn-out, ADHS und Demenz hervorquellen? Das wird dann alles in die
ärztliche Diagnostik getragen und ghettoisiert, damit kann die Frage
nach den Quellen der Störungen systematisch und verbissen ausgeblen-
det werden.“ (Gronemeyer 2013, 234)
Zweifelsohne, der Trend zur Individualisierung in unserer westlichen Ge-
sellschaft nimmt zu, so auch beim Wohnen, wie die Entwicklung der ver-
gangenen knapp fĂĽnfzig Jahre zeigt: Im Jahr 1971 lebten in Ă–sterreich
5,4 Prozent der Männer und 12,1 Prozent der Frauen allein, im Jahr 2018
waren es 15,6 Prozent der Männer und 18,2 Prozent der Frauen, die alleine
in einem Haushalt lebten. Die Anzahl der Haushalte, in denen „klassische“
Familien als Paar mit Kind(ern) leben, ist deutlich zurĂĽckgegangen: von
37,9Â
Prozent im Jahr 1985 auf 26,9Â
Prozent im Jahr 2018 (vgl. Statistik Aus-
tria 2019).
Obwohl der Mensch im Grunde seines Wesens ein zoon politikon ist, entwi-
ckeln sich Menschen, je besser es ihnen wirtschaftlich geht, zu Individu-
alisten. „Dass damit ihr Risiko der Einsamkeit ebenfalls steigt, dürfte den
wenigsten klar sein.“ (Spitzer 2018, 14) Denn vom beabsichtigten Allein-
sein, das mit Individualismus und Freiheit verbunden wird, kann man in
der ungewollten Einsamkeit landen.
Im vorliegenden Beitrag wird zunächst analysiert, wie es vom Mehr-Ge-
nerationen-Haus zur individualisierten Wohnform kam, um im darauf
folgenden Schritt zu zeigen, dass Menschen in vulnerablen Situationen
– in die jede/r sehr schnell kommen kann – ganz besonders auf Wohnen
in Gemeinschaft angewiesen sind. SchlieĂźlich werden Wohnformen, die
Zukunft haben können und das Miteinander wieder in den Blick nehmen,
Menschen entwickeln sich, je besser es ihnen
wirtschaftlich geht, zu Individualisten.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 222
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven