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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische GefÀhrdung
Fundamentalismus stellt eine bleibende Herausforderung fĂŒr Religionen
und Gesellschaften dar. Je vielschichtiger das PhÀnomen beleuchtet wird,
desto eher ist ein VerstaÌndnis möglich und sind darauffolgende MaĂnah-
men effektiv anwendbar. In diesem Artikel möchte ich daher eine zusaÌtz-
liche Deutungsperspektive auf Fundamentalismus anbieten: Fundamen-
talismus als gewaltsame (Wieder-)Herstellung von Reinheit. Ich gehe
dabei von Mary DouglasÊŒ SchlĂŒsselwerk Reinheit und GefĂ€hrdung1 aus und
werde diesen klassischen Ansatz mit Interpretationen von Fundamentalis-
mus sowie aktuellen Forschungen zu Reinheitsvorstellungen ins GesprÀch
bringen.2 Douglas selbst hat in ihrem kulturanthropologischen Zugang
auch religionswissenschaftliche, sozial- und kognitionspsychologische
Erkenntnisse integriert, was hier ebenfalls geschehen soll.
Damit verbunden ist kein exklusiver Anspruch, sondern das Angebot einer
zusÀtzlichen Perspektive, durch die sich neue Interpretationsmöglichkei-
ten ergeben: Es erweitert die Möglichkeiten des Verstehens fundamen-
talistischer PhĂ€nomene, macht mögliche GrĂŒnde und Motivationen fĂŒr
fundamentalistische Denkweisen sichtbar und bietet zusÀtzliche Hinweise
fĂŒr den Umgang mit ihnen. Ziel ist es, Fundamentalismus nicht als (exter-
nen) Missbrauch von Religion, sondern als ein inhÀrentes PhÀnomen so-
zialer Systeme zu verstehen, als Ergebnis einer spezifischen Entwicklung
aus Weltdeutung und sozialen Dynamiken, als Teil von religiösen Tradi-
tionen â und daher als nicht vollstĂ€ndig zu verhindern. Eine zusĂ€tzliche
Konsequenz aus diesen Ăberlegungen ist, Fundamentalismus nicht aus-
schlieĂlich als Erscheinung religiöser Traditionen zu begreifen, sondern
als Potenzial aller menschlichen Bedeutungssysteme, also auch sÀmtlicher
politischer oder sozialer Ideologien und Bewegungen.
1 Fundamentalismus und Gewalt
Der Ausdruck âFundamentalismusâ ist ein analytisch kaum zu fassender
Begriff. Er wird in unterschiedlichen Kontexten verwendet, ist fast immer
eine Fremdbezeichnung, dient im Regelfall einem negativen Urteil und ist
auch religions- und sozialwissenschaftlich nicht einheitlich definiert. Zu-
dem liegt sein Ursprung einerseits innerhalb des protestantischen Chris-
tentums der USA,3 andererseits werden mit ihm heute haÌufig Erschei-
nungsformen des Islam identifiziert; zugleich wird er auch auf Hinduis-
mus, Buddhismus oder neureligiöse Bewegungen angewandt (vgl. Kienz-
ler 2007, 9â14). Hinzu kommen auch Fragen der zeitlichen Einordnung:
1 Bei Mary Douglas bezieht sich das
Wort âGefĂ€hrdungâ auf die empfun-
dene Bedrohung von Reinheit durch
Verschmutzung. Ich drehe im Titel
die Zielrichtung um und weise Fun-
damentalismus seinerseits als eine
GefÀhrdung aus, die sich aus Rein-
heitskonzeptionen ergibt.
2 Herzfeld (2016) hat âReinheit
und GefĂ€hrdungâ schon zuvor mit
dem Begriff âFundamentalismusâ
in Verbindung gebracht, es handelt
sich hier jedoch um eine Studie zu
politischer Sprachsemantik in GroĂ-
britannien und nicht um eine Analy-
se des Begriffs oder des PhaÌnomens
selbst.
3 Schirrmacher (2011, 9â10) weist
darauf hin, dass das Schriftgut die-
ser ersten âFundamentalistenâ Ă€u-
Ăerst heterogen ist und vieles davon
keineswegs âfundamentalistischâ im
heutigen Sprachgebrauch wÀre.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven