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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
2 Reinheit – kulturanthropologische und
sozialpsychologische Deutungen
Reinheit und Unreinheit gehören zu den fundamentalen Grundkategorien
menschlichen Denkens und Fühlens: Die Beschäftigung mit Schmutz, Ver-
unreinigung und Ansteckung und das Empfinden von Ekel bzw. Abscheu
gegenüber als gefährdend wahrgenommenen Substanzen sind tief im
Menschen verwurzelt und entsprechend gut erforscht (vgl. Malinar/Vöhler
2019). Ich möchte argumentieren, dass in den Studien der Kulturanthropo-
login Mary Douglas, speziell in ihrem Schlüsselwerk Reinheit und Gefähr-
dung von 1966, ein bleibend aktuelles Deutungsmuster vorliegt, mit dem es
auch möglich ist, fundamentalistische Dynamiken mit Hilfe der Kategorie
Reinheit zu interpretieren.
Douglas hat anhand von anthropologischen Studien gezeigt, wie eng Rein-
heitsvorstellungen mit der menschlichen Kultur verknĂĽpft sind, dass aber
zugleich die Bedeutung solcher Vorstellungen in modernen, säkularen Ge-
sellschaften nicht mehr richtig nachvollzogen werden kann. In letzteren
erscheinen Reinheit und Unreinheit vor allem als Frage der Hygiene: Unser
Denken darĂĽber ist so sehr beeinflusst vom modernen Wissen ĂĽber Bakte-
rien und Krankheitserreger, dass „es heute schwerfällt, Schmutz anders als
im Zusammenhang mit Pathogenese zu denken“ (Douglas 1985, 52). Doch
sind Reinheit und Schmutz zunächst Kategorien von symbolischen Ord-
nungssystemen, die mehr sind als bloße Hygiene: Lässt man, wie Douglas,
die seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelten Hygieneregeln außen vor,
ergibt sich eine umfassende Definition von Schmutz als etwas, „das fehl
am Platz ist“ (ebd.). Etwas ist nicht einfach Schmutz, sondern wird dazu
erklärt, indem es gegen eine vorgegebene symbolische Ordnung der Welt
verstößt:
„Wo es Schmutz gibt, gibt es auch ein System. Schmutz ist das Nebenpro-
dukt eines systematischen Ordnens und Klassifizierens von Sachen […]
Schmutz ist etwas Relatives. Schuhe an sich sind nichts Schmutziges, sie
werden aber dazu, wenn man sie auf den Esstisch stellt. Essen ist an sich
nichts Schmutziges, es wird aber dazu, wenn man Kochgeräte im Schlaf-
zimmer deponiert oder die Kleider damit befleckt. […] Kurz, unser Ver-
Reinheitsvorstellungen sind eng mit der menschlichen Kultur verknĂĽpft, doch
ihre Bedeutung ist in modernen Gesellschaften nur schwer nachvollziehbar.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven