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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung
Kategorie – Reinheit bringt Unreinheit erst hervor. Solange diese
Kategorisierungen eindeutig bleiben, ‚funktioniert‘ diese Logik –
problematisch wird es, wenn diese Kategoriengrenzen unscharf
werden und das Unreine in den Bereich des Reinen einzudringen
droht.
3. Menschen haben eine natürliche Veranlagung zu Abscheu / Ekel,
fungierend als Schutzmechanismus des Körpers vor als schädlich
und gefährdend betrachteten Substanzen oder Materien. Die Ver-
anlagung wird jedoch immer erst kulturell und sozial entwickelt
und auf Objekte hin konkretisiert.
4. Das subjektive Empfinden von Abscheu stellt sich aber auch bei
Handlungen oder Aussagen ein, wenn diese gegen bestimmte,
zentrale Kategorien eines Ordnungssystems verstoßen – eben bei
Anomalien. Der Abscheu wird zudem auf die Urheber:innen dieser
Handlungen und Aussagen übertragen; ebenso können dann auch
andere distinktive Verhaltensweisen dieser Personen als wider-
wärtig angesehen werden.
5. Dieses Empfinden stellt sich primär ein, wenn besonders hervor-
gehobene, im weiteren Sinn ‚heilige‘ Kategorien des Ordnungs-
systems bedroht sind; bei Aussagen, Ideen und Handlungen, die
als eine Gefahr für die soziale, körperliche und seelische Integrität
betrachtet werden. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen reli-
giösen und nicht-religiösen Ordnungssystemen.
Ausgehend von diesem Schema möchte ich als eine wesentliche Ursache
von Fundamentalismus diese intensive Auseinandersetzung mit symboli-
schen Konzepten von Reinheit und Heiligkeit benennen. Fundamentalis-
mus ist wesentlich mit Reinheit befasst (vgl. Beale 1986; Antoun, 2001):
Dies betrifft die Reinheit von heiligen Stätten, theologischen Konzeptionen
oder Moral ebenso wie jene von sozialen Gruppen – auch der eigenen. Je
ausschließender und enger diese Ordnungen definiert werden, je mehr sie
‚vereindeutigt‘ (vgl. Bauer 2018, 31–40) sind, umso weiter und umfassen-
der wird zugleich der Bereich der Anomalien und Ambiguitäten, und umso
stärker stellt sich Abscheu vor als kontaminierend und bedrohlich ver-
standenen Ideen, Verhaltensweisen, Lebensformen, Personen oder gesell-
schaftlichen Prozessen ein, die als Gefährdung betrachtet werden. Als ent-
scheidender Marker des Fundamentalismus kommt dann hinzu, dass zur
Auflösung dieser Spannung aus Reinheit und Gefährdung auch gewaltsa-
me Mittel geduldet und angewandt werden – der Fundamentalismus wird
selbst zur Gefährdung der anderen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven