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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische GefÀhrdung
3 Die fundamentalistische Dynamik von Reinheit und Unreinheit
Kein Individuum, kein soziales System kommt ohne ein interpretatives
Ordnungssystem aus, mit dessen Hilfe die Welt verstanden werden kann
und aus dem sich Orientierung ableiten lĂ€sst. Der Preis dafĂŒr ist, wie Dou-
glas gezeigt hat, dass mit jeder Ordnung auch Unordnung geschaffen wird.
Anomalien werden erzeugt, die die LegitimitÀt des Systems in Frage stel-
len. Religionen lassen sich ebenfalls unter diese Ordnungssysteme subsu-
mieren, sie greifen jedoch ĂŒber die immanente Welt hinaus und halten das
System auf Transzendenz hin offen, weshalb die Dimension des Heiligen,
Sakralen noch einmal eine besondere Bedeutung aufweist; ihre sozialen
Ordnungen werden verwandelt in heilige, göttliche Ordnungen mit weitaus
höherer Verbindlichkeit (vgl. Graham/Haidt 2010). Religionen sind daher
immer mit Vorstellungen und Praktiken befasst, die mit Reinheit, Unrein-
heit, Befleckung und Reinigung zu tun haben. Zugleich nehmen Religionen
jedoch, wie Douglas deutlich gemacht hat, hier keine Sonderstellung ein.
Ausgehend von dieser Feststellung: Wie lÀsst sich die Funktionsweise des
Fundamentalismus beschreiben? Mit Thomas Bauer kann Fundamentalis-
mus zunÀchst als Prozess der Vereindeutigung beschrieben werden, indem
AmbiguitÀten innerhalb eines (religiösen) Deutungssystems zu Gunsten
von klaren, rigiden Aussagen beseitigt werden (vgl. Bauer 2018, 31â40).
Es handelt sich um eine Reaktion auf Unsicherheit, Unklarheit, Entwick-
lungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder der Religion selbst; wobei
versucht wird, das eigene System gegenĂŒber diesen Entwicklungen ein-
deutiger zu definieren.8 Je enger nun aber das System gefasst wird, umso
gröĂer ist nach Douglas zwingend die Zahl der Abweichungen und Ano-
malien: Immer mehr alternative Denkweisen, soziale Strukturen, Moral-
vorstellungen oder Praktiken stehen nun abweichend oder kontrÀr zu den
Klassifikationen und stellen diese in Frage. In einer pluralen Gesellschaft
ist dies der normale Zustand. Es findet ein Wechselspiel aus gesellschaft-
licher Dynamik und symbolischer Ordnung statt: PluralitÀt stellt singulÀre
Systeme in Frage; manche reagieren darauf mit Vereindeutigung. Je ein-
deutiger sie jedoch sind, umso mehr neue Abweichungen werden zugleich
erzeugt.9
Der erste Schritt ist also die Abgrenzung von Uneindeutigkeiten, Differen-
zierungen und AmbiguitÀten. Es gelingt nicht, sie in die eigene Deutung zu
Fundamentalismus als Prozess der Vereindeutigung
8 Dies ist keineswegs nur ein Effekt
traditioneller oder religiöser Deu-
tungssysteme; auch liberale, sÀkular
denkende Menschen empfinden
Abscheu gegenĂŒber rassistischen
ĂuĂerungen, Rechtsextremismus
oder Menschenrechtsverletzungen,
die sie als âwiderwĂ€rtigâ erleben,
weil sie ihre fundamentalen Welt-
deutungen (Gleichheit, Demokratie,
MenschenwĂŒrde) massiv bedrohen.
9 Mit Blick auf die in FuĂnote 6
erwĂ€hnte Cultural Theory lieĂe sich
hier die Hypothese aufstellen, dass
unterschiedliche Formen von Fun-
damentalismus eine Reaktion darauf
sind, das jeweilige Organisations-
system als gescheitert oder dys-
funktional zu erleben â Fundamen-
talismus wÀre dann verstehbar als
gewaltsamer Versuch entweder der
Stabilisierung, der radikalen Reform
oder des Wechsels des Organisa-
tionssystems. Damit lieĂe sich auch
verstehen, dass Fundamentalismen
sowohl bei Minderheiten wie auch
bei Mehrheiten entstehen können.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven