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LIMINA - Grazer theologische Perspektiven
Limina - Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
Seite - 78 -
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78 | www.limina-graz.eu Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische Gefährdung 3 Die fundamentalistische Dynamik von Reinheit und Unreinheit Kein Individuum, kein soziales System kommt ohne ein interpretatives Ordnungssystem aus, mit dessen Hilfe die Welt verstanden werden kann und aus dem sich Orientierung ableiten lässt. Der Preis dafür ist, wie Dou- glas gezeigt hat, dass mit jeder Ordnung auch Unordnung geschaffen wird. Anomalien werden erzeugt, die die Legitimität des Systems in Frage stel- len. Religionen lassen sich ebenfalls unter diese Ordnungssysteme subsu- mieren, sie greifen jedoch über die immanente Welt hinaus und halten das System auf Transzendenz hin offen, weshalb die Dimension des Heiligen, Sakralen noch einmal eine besondere Bedeutung aufweist; ihre sozialen Ordnungen werden verwandelt in heilige, göttliche Ordnungen mit weitaus höherer Verbindlichkeit (vgl. Graham/Haidt 2010). Religionen sind daher immer mit Vorstellungen und Praktiken befasst, die mit Reinheit, Unrein- heit, Befleckung und Reinigung zu tun haben. Zugleich nehmen Religionen jedoch, wie Douglas deutlich gemacht hat, hier keine Sonderstellung ein. Ausgehend von dieser Feststellung: Wie lässt sich die Funktionsweise des Fundamentalismus beschreiben? Mit Thomas Bauer kann Fundamentalis- mus zunächst als Prozess der Vereindeutigung beschrieben werden, indem Ambiguitäten innerhalb eines (religiösen) Deutungssystems zu Gunsten von klaren, rigiden Aussagen beseitigt werden (vgl. Bauer 2018, 31–40). Es handelt sich um eine Reaktion auf Unsicherheit, Unklarheit, Entwick- lungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder der Religion selbst; wobei versucht wird, das eigene System gegenüber diesen Entwicklungen ein- deutiger zu definieren.8 Je enger nun aber das System gefasst wird, umso größer ist nach Douglas zwingend die Zahl der Abweichungen und Ano- malien: Immer mehr alternative Denkweisen, soziale Strukturen, Moral- vorstellungen oder Praktiken stehen nun abweichend oder konträr zu den Klassifikationen und stellen diese in Frage. In einer pluralen Gesellschaft ist dies der normale Zustand. Es findet ein Wechselspiel aus gesellschaft- licher Dynamik und symbolischer Ordnung statt: Pluralität stellt singuläre Systeme in Frage; manche reagieren darauf mit Vereindeutigung. Je ein- deutiger sie jedoch sind, umso mehr neue Abweichungen werden zugleich erzeugt.9 Der erste Schritt ist also die Abgrenzung von Uneindeutigkeiten, Differen- zierungen und Ambiguitäten. Es gelingt nicht, sie in die eigene Deutung zu Fundamentalismus als Prozess der Vereindeutigung 8 Dies ist keineswegs nur ein Effekt traditioneller oder religiöser Deu- tungssysteme; auch liberale, säkular denkende Menschen empfinden Abscheu gegenüber rassistischen Äußerungen, Rechtsextremismus oder Menschenrechtsverletzungen, die sie als ‚widerwärtig‘ erleben, weil sie ihre fundamentalen Welt- deutungen (Gleichheit, Demokratie, Menschenwürde) massiv bedrohen. 9 Mit Blick auf die in Fußnote 6 erwähnte Cultural Theory ließe sich hier die Hypothese aufstellen, dass unterschiedliche Formen von Fun- damentalismus eine Reaktion darauf sind, das jeweilige Organisations- system als gescheitert oder dys- funktional zu erleben – Fundamen- talismus wäre dann verstehbar als gewaltsamer Versuch entweder der Stabilisierung, der radikalen Reform oder des Wechsels des Organisa- tionssystems. Damit ließe sich auch verstehen, dass Fundamentalismen sowohl bei Minderheiten wie auch bei Mehrheiten entstehen können.
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Limina Grazer theologische Perspektiven, Band 4:1
Titel
Limina
Untertitel
Grazer theologische Perspektiven
Band
4:1
Herausgeber
Karl Franzens University Graz
Datum
2021
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
Abmessungen
21.4 x 30.1 cm
Seiten
224
Kategorien
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