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Christian Feichtinger | Reinheit und fundamentalistische GefÀhrdung
Missbrauch oder Fehlentwicklung, sondern deren immerwÀhrende Mög-
lichkeit. Fundamentalismus betrifft nicht spezielle, religiöse Traditionen,
sondern ist eine stets mögliche Entwicklung in der Dynamik aus Reinheit
und Unreinheit im Sinne von Douglas. Dennoch gilt es, solchen Entwick-
lungen entgegenzutreten, da sie die mĂŒhsam errungenen Grundrechte auf
Leben, Freiheit oder Unversehrtheit von Menschen bedrohen und in Frage
stellen. Begriffe wie âMissbrauchâ oder âFehlentwicklungâ wĂŒrden jedoch
ĂŒber diese inhĂ€renten Potenziale hinwegtĂ€uschen und Fundamentalis-
musprÀvention erschweren, da sie zu einer Abtrennung der fundamenta-
listischen Formen von ihren UrsprĂŒngen fĂŒhren. Möglicherweise ist es so-
gar zielfĂŒhrender, diese Dynamik als Prozess zu verstehen, als âReinigungâ,
bei der permanent Zugehörigkeiten und Grenzziehungen ausgehandelt
oder hergestellt werden. Dies steht auch in Zusammenhang mit den so-
zialwissenschaftlichen Konzepten von symbolischen und sozialen Grenz-
ziehungsprozessen (vgl. Lamont/MolnĂĄr 2002) sowie des âOtheringâ. Eine
eingehendere Reflexion kann im Rahmen dieses Beitrags nicht erfolgen,
doch könnten beide Konzepte hypothetisch als Beschreibung von symbo-
lischen und sozialen Prozessen verstanden werden, in denen sich die von
Douglas beschriebene Dynamik auf eine bestimmte Weise sozial und kul-
turell manifestiert.
Studien zur FundamentalismusprÀvention stehen noch am Anfang. Aus den
bisherigen Ăberlegungen sind daher keine konkreten, empirisch gesicher-
ten MaĂnahmen, wohl aber mögliche Ausblicke abzuleiten. PrĂ€vention von
Fundamentalismus wÀre zunÀchst damit zu beginnen, das eigene Gewalt-
potenzial zu erkennen und als mögliche Bedrohung ernst zu nehmen. Jede
Religion, jede Weltanschauung ist aufgefordert, sich dem Fundamentalis-
mus zu stellen als vorhandener oder möglicher AusprÀgung ihrer je eigenen
Weltdeutungen und sozialen Strukturen â als ihr je eigenes Potenzial der
Verengung, Purifizierung und Gewalt.12 Eine Abtrennung des Fundamen-
talismus von der je eigenen Tradition verstellt den kritischen Blick auf die
eigenen Potenziale. Die Fragestellung könnte sogar umgedreht werden:
Nicht GewalttĂ€tigkeit muss erklĂ€rt werden â denn sie war und ist ein prĂ€-
gender Teil menschlichen Zusammenlebens â, sondern Gewalt
losigkeit.
Gegenstand des Interesses könnten dann vielmehr jene Faktoren werden,
die Menschen zu friedlichem Zusammenleben befÀhigen, anstatt Friedfer-
tigkeit als Normalfall und Gewalt als Fehlentwicklung zu betrachten, fĂŒr
die es GrĂŒnde zu suchen gilt.
Ebenso bedeutsam wĂ€re die EinĂŒbung in Kritik und Selbstkritik: WĂ€hrend
Fundamentalismus gerade die Bewahrung der Reinheit eines Systems an-
12 Dies sollte ausnahmslos prak-
tiziert werden, auch bei zunÀchst
ausschlieĂlich positiv wirkenden
Bewegungen (etwa Klimaschutz
oder Antirassismus, um aktuelle
Beispiele zu nennen). Denn eben alle
Bewegungen haben das Potenzial zu
fundamentalistischen AusprÀgun-
gen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven