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Fabian Müller | Biblizismus als Retter der Tradition?
Mit Platon geht Gregor davon aus, dass das, was der Mensch bei materiel-
len Dingen erkennen kann, das Allgemeine an ihnen ist. Es gibt z. B. etwas,
das allen Tischen gemeinsam ist; diese Idee des Tisches ermöglicht es dem
Menschen, einen einzelnen Tisch als Tisch zu erkennen. Die Idee des Ti-
sches ist aber an sich immateriell. Materiell ist nur der einzelne konkrete
Tisch. So ist es, laut Gregor, auch mit den Qualitäten. Ein Stück Holz z. B.
hat eine bestimmte Farbe, Größe, Lage usw. All diese Qualitäten sind an
sich, wie auch die Ideen, immateriell. Erst das Zusammenwirken der Qua-
litäten konstituiert die Materie. Im Zuge eines Synergieeffekts schafft die
Gesamtheit der an sich – als Einzelne – immateriellen Dinge den Sprung in
die Materialität (vgl. Köckert 2009, 414–424).
Damit hat Gregor erklärt, wie ein immaterieller Gott eine materielle Welt
erschaffen kann. Diese Interpretation von Gen 1,1–2 kann natürlich ihren
platonischen Hintergrund nicht verleugnen. Sie bietet einen Lösungsan-
satz für ein altes Problem, das heute unter dem Begriff „mentale Verursa-
chung“ verhandelt wird (vgl. Maslen/Horgan/Daly 2009, 523–553). Gregor
interpretiert den Bibeltext auf dem Hintergrund der damals vorherrschen-
den Philosophie, zugleich wird er aber nicht müde zu betonen, dass sich
seine Auslegung aus dem Text selbst ergibt (vgl. Köckert 2009, 421; Mar-
modoro 2015, 102–109).
Im Mittelalter geht Robert von Melun (1100–1167), wie bereits Gregor von
Nyssa, von einer Schöpfung in einem einzigen Augenblick und nicht in sechs
Tagen aus (vgl. Evans 1996, 252). Auch Honorius von Autun (1080–1150)
interpretiert Gen 1 auf diese Weise und verweist dafür auf Sir 18,1 („Der in
Ewigkeit lebt, hat alles insgesamt geschaffen“). Hier wird wiederum mit-
hilfe der wörtlichen Auslegung der einen Bibelstelle (Sir 18,1) die andere
Bibelstelle (Gen 1) allegorisch ausgelegt (vgl. ebd.). In der vielbeachte-
ten Auslegung von Thierry von Chartres (1100–1150) wird der erste Satz
der Bibel „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ ebenfalls allegorisch
ausgelegt. Laut Thierry hat Gott damit die vier Elemente geschaffen, aus
denen sich dann in weiterer Folge der Kosmos entwickelt (vgl. Flasch
2013b, 260).
Neben den vielfältigen Varianten einer allegorischen Auslegung von Gen
1–2 gibt es aber auch Exegeten, die an einer wörtlichen Auslegung festhal-
ten. Theophilus von Antiochien (†183) nimmt umfangreiche Berechnun-
Vielfältige Varianten einer allegorischen Auslegung, aber auch
Exegeten, die an einer wörtlichen Auslegung festhalten
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven