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Adem Aygün | Fundamentalismus im zeitgenössischen islamischen Denken
züge verursachten Turbulenzen und Identitätskrisen ebenfalls eine Rol-
le (vgl. Würtz 2007). Die Lehre Ibn Taimiyyas suggerierte eine Rückkehr
zum wahren, ursprünglichen Islam der Altvorderen. Damit beabsichtigte
er, den Islam von allen später hinzugefügten Neuerungen zu reinigen, um
die muslimische Weltgemeinschaft zu stärken. Er bezeichnete die rationa-
len Interpretationen der islamischen Rechts- und Denkschulen als unnötig
und behauptete, dass der Koran und die Sunna allein für den Glauben aus-
reichen würden. Dabei machte Ibn Taimiyya insbesondere den Volksislam
und den Sufismus für die Abweichungen verantwortlich und verurteilte
sie scharf. Er forderte den Dschihad gegen Muslime, die religiöse Pflichten
nicht praktizierten, und gegen Sekten sowie Gruppen, die er als Abtrünnige
bezeichnete. Obwohl diese Lehre zu ihrer Zeit als erfolglos und marginal
betrachtet wurde, erfuhr sie im 17. Jahrhundert mit ihrer Wiederaufnahme
durch Muhammad ibn Abd al-Wahhab einen neuen Aufschwung und bildet
die Grundlage des mit diesem Namen verbundenen Wahhabismus.
Eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Reformbewegung ist
hier als weiterer historischer Wendepunkt des Salafismus erwähnenswert,
obwohl ihr Einfluss auf ihn nicht so groß war wie der des Wahhabismus.
Für die islamische Welt endete das 19. Jahrhundert mit einem Niedergang
gegenüber den europäischen Großmächten, der soziokulturelle und wirt-
schaftliche Veränderungen und Schwierigkeiten mit sich brachte. Infolge-
dessen entstanden unter den Muslimen Zweifel an der islamischen Vor-
macht (vgl. Schölch 2004).
Als Konsequenz aus diesen Zweifeln gab es unter muslimischen Denkern
wie Dschamal ad-Din al-Afghani (1837–1897), Muhammad Abduh (1849–
1905) oder Raschid Rida (1865–1935) Bemühungen um eine Reform der
Religion. Dabei gingen sie von einer Diskrepanz zwischen einem mittel-
alterlichen Islamverständnis und der vom Westen geprägten Modernität
aus und priesen in Reaktion darauf ein Islamverständnis, das auf die Revi-
talisierung koranischer Werte und die Rückbesinnung auf eine goldene Zeit
abzielte (vgl. Moser 2012). Dazu gehörte auch die Idee, die islamische Welt
könne ihre alte Stärke zurückgewinnen, wenn die Muslime sich wieder
wahrhaft auf den Ursprung ihrer Religion besännen. Jegliche Erneuerungen
bzw. Veränderungen der islamischen Lehre nach 855 wurden abgelehnt,
Es entstand die Idee, die islamische Welt könne mit der Rückbesinnung
auf den Ursprung ihrer Religion auch ihre alte Stärke zurückgewinnen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 224
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven