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Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
Ein Beitrag zu Freiheit und Befreiung mit alttestamentlichem Fokus in
liminaler Theologie muss vom Exodus handeln, darf sich aber weder auf
historische noch literarische Fragen konzentrieren (vgl. Römer 2019): Die
Initiative der Gottheit Israels, sein Volk aus dem âSklavenhaus Ăgyptenâ zu
fĂŒhren, ist zum Paradigma der Befreiung, auch zum Paradigma der Befrei-
ungstheologie geworden. Es erweist ĂŒberall dort, wo es bedrĂŒckende Ver-
hÀltnisse gibt, aus denen Menschen hoffen, befreit zu werden, seine Poten-
tialitÀt zur Aktualisierung im Hier und Heute.
Die ExoduserzĂ€hlung hat aus mehreren GrĂŒnden bleibende welterzeu-
gende1 Kraft: Einerseits schildert sie die Befreiung aus der Sklaverei, dem
Status des dauerhaft völligen Ausgeliefertseins, der einem Menschen jegli-
che Personenrechte abspricht und ihn zum Besitz degradiert. Andererseits
wird nicht nur ein Individuum befreit, sondern ein ganzes Volk, was sowohl
Hoffnung auf Freiheit fĂŒr jeden einzelnen Menschen wachhĂ€lt, als auch
diese quasi kollektiv institutionalisiert.
Zudem ist mit der ExoduserzÀhlung unlösbar das Paradigma des Befreit-
Werdens verbunden, das zwar jeglichen SelbsterlösungstrÀumen eine Ab-
sage erteilt, aber zugleich kein passives Zuwarten oder bloĂes sich Ereig-
nen zulÀsst, sondern aktive Mitwirkung fordert. Befreiung kommt dem-
nach durch ein resonantes Beziehungsgeschehen2 zustande, weder allein
durch göttliches Eingreifen, noch allein durch menschliches Ringen. Mit
den anschlieĂenden WĂŒstenerzĂ€hlungen werden zudem die mit der Frei-
heit verbundenen Risiken des Auszugs aus Sklaverei und UnmĂŒndigkeit
thematisiert. Diese Felder werden im Folgenden im Kontext einer limina-
len Theologie zu verstehen versucht und mit Blick auf eine mögliche Re-
zeption fĂŒr unsere Zeit vorgestellt.
Befreiung wovon?
Sklaverei und Genozid als Extreme der Not
Der Beginn des Buches Exodus hat eine literarische Klammerfunktion zur
Genesis,3 indem betont wird, dass die Schutzfunktion fĂŒr das in Ăgypten im
Status des Fremdlings wohnende Volk durch den Tod Josefs und des gast-
freundlichen Pharaos weggefallen ist (Ex 1,8â10). Zudem wird in ErfĂŒllung
Die Initiative der Gottheit Israels, sein Volk aus dem âSklavenhaus Ăgyptenâ
zu befreien, ist zum Paradigma der Befreiung geworden.
1 Siehe dazu Goodman 1984; die-
ses Deutungskonzept halte ich fĂŒr
die Bibelwissenschaft als sehr an-
schlussfÀhig und habe es an mehre-
ren Textkomplexen bereits erprobt:
Fischer 2013; Fischer 2014; Fischer
2015; Fischer 2016; Fischer 2018a.
2 Zur Resonanztheorie vgl. Rosa
2016. Zum Konzept resonanter
Weltbeziehungen lÀuft derzeit ein
Internationales Graduiertenkolleg
der UniversitÀt Graz mit dem Max-
Weber-Kolleg Erfurt (Resonante
Weltbeziehungen in sozio-religiösen
Praktiken in Antike und Gegenwart;
siehe https://dk-resonance.uni-
graz.at/), welches die Möglichkeiten
der Applikation dieser Theorie auch
auf die Theologie auslotet. Vgl. dazu
bereits einige alttestamentliche Pu-
blikationen: Fischer 2018b; Fischer
[im Druck].
3 Dieser Zusammenhang ist in
Schmid 1999 ausfĂŒhrlich darge-
stellt. Zur Einbettung der Exodus-
ErzÀhlung in den narrativen Zu-
sammenhang von Gen â 2 Kön siehe
Utzschneider/Oswald 2013, 21â23.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven