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Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
des Schöpfungsauftrags betont, dass Israel in Ägypten von einer Sippe zu
einem Volk angewachsen ist (Gen 1,28; Ex 1,7). Genau dies aber führt zu
Überfremdungs- und Umsturzängsten des regierenden Herrschers, der
daraufhin für diese Bevölkerungsgruppe Zwangsarbeit unter der Aufsicht
von Fronvögten verfügt. Man will diese Zuwanderer unter Kontrolle halten
und meint, deren Geburtenrate durch zu leistende Schwerstarbeit herab-
setzen zu können.4 – Stünden solche Aussagen nicht in der Bibel, würde
man sie heute der populistischen Neuen Rechten zuschreiben.
Als diese Maßnahmen den gegenteiligen Effekt erzielen, beschließt man am
Pharaonenhof, Israel zu versklaven, die auferlegte Arbeit noch zu erwei-
tern und zu erschweren. Der Pharao initiiert zudem einen schleichenden
Genozid: Er spricht selbst mit den Hebammen der Hebräerinnen und weist
sie an, die Knaben bei der Geburt sterben zu lassen. In patrilinearen Gesell-
schaften bedeutet der Mangel an Männern langfristig das Aussterben einer
sozialen Einheit; Frauen sind jedoch in fremde Genealogien integrierbar,
sind allein nicht in der Lage, die Identität einer Ethnie zu erhalten. Schifra
und Pua jedoch verweigern sich der Selektion aufgrund des Geschlechts,
was eine zweifache Reaktion bewirkt: Gott belohnt sie, der Pharao hinge-
gen gibt nun den Befehl zum direkten Genozid, nach dem nun alle neuge-
borenen Knaben in den Nil geworfen werden müssen.
Die paradigmatische Exodus-Erzählung beschreibt damit die kollektive Not
in ihren Extremen: Entmenschlichung durch Verlust der Personenrechte
und Genozid. Der ägyptische Herrscher entwickelt sich in Ex 1–14 immer
mehr zum Despoten, der keinerlei Respekt vor dem Leben zeigt. Obwohl er
sich als gottgleich hochstilisiert (Ex 5,1f.), gerät er in den Plagen-Erzäh-
lungen immer mehr in Bedrängnis, auf sein Wort ist kein Verlass mehr. Das
zeigen in der Folge die Zugeständnisse, die er immer wieder zurücknimmt,
sobald der Druck auf ihn nachlässt (siehe Ex 5–14). Man könnte den ersten
Teil des Exodusbuches heute also durchaus auch als Befreiung von einer
ungerechten Regierung verstehen.
Ein zur Befreiung fähiger Gott und die Verhältnismäßigkeit der Mittel
Der Anfang der Befreiung wird durch das Sehen der Not und das Hören der
Klage über das Unrecht durch Gott gesetzt (Ex 3,7). Solche göttlichen Sin-
4 Die vielfältigen jüdischen Ausle-
gungen zu diesem Kapitel (so etwa,
dass jede Frau pro Schwangerschaft
zwölf Kinder geboren habe) finden
sich zusammengestellt bei Stember-
ger 2017. Die Exodus-Erzählung beschreibt kollektive Not in ihren Extremen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven