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Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
nahmen für das durch das göttliche Ansinnen noch stärker unterdrückte
Volk (4,20–23) und andererseits den Zugang zum Königshof, um endlose
Verhandlungen mit dem sich immer deutlicher zum sadistischen Despot
(5,4–19) entwickelnden Herrscher zu initiieren. Sie werden im Kontext der
Plagen-Erzählungen vor Augen geführt, die immer mit demselben Resul-
tat enden: Der König lässt sich nicht beeindrucken und bleibt hart. Erst ab
der achten Plage schwenkt der Pharao jeweils um und ist bereit, im Göt-
terkampf zwischen ihm und JHWH die Niederlage zu akzeptieren. Als al-
lerdings die jeweilige Plage aufgrund der FĂĽrbitte von Mose und Aaron zu
Ende geht, bricht er wiederum sein Wort (9,8–10,29).
Nicht sieben, sondern zehn Mal lässt sich JHWH mit seinem Vorsatz, das
Volk aus der Hand seiner Peiniger zu befreien, an der Nase herumfĂĽhren.
Um Befreiung zu erwirken schlägt er nicht einfach drein, sondern erweist
selbst bei repulsiver Resonanz noch seine Langmut. Erst die zehnte Plage
wird den Erfolg bringen. Sie bildet literarisch eine Inklusion zum geplan-
ten Genozid von Ex 1 und ist als Folge des Tun-Ergehen-Zusammenhangs
zu verstehen: Der Pharao ließ allen männlichen Nachwuchs töten, JHWH re-
agiert nach langem mit der Tötung der männlichen Erstgeborenen der Ägyp-
ter (vgl. Ex 11–13). Seine Vergeltung ist damit wesentlich weniger grausam
als das, was der Herrscher an seinem Volk verbrochen hatte. Dennoch gibt
es heute in Europa viele Menschen, die mit einer Vorstellung, dass Gott bei
der Befreiung seines Volkes Mensch und Vieh töten könnte, gravierende
Probleme haben.9
Ein Gott, der stark genug fĂĽr eine Rettung ist, muss sich nach altorienta-
lischer Vorstellung aber auch durchsetzen können. Ein Ausweichen in eine
Erlösung im Jenseits war religionsgeschichtlich zu jener Zeit, als diese Tex-
te entstanden, noch nicht denkbar. Also musste die Befreiung im Diesseits
geschehen, oder sie geschah gar nicht. Menschen in Ländern ohne Demo-
kratie oder gar im Kriegszustand haben mit einem Gottesbild, das auch Ge-
walt miteinschlieĂźt, in der Regel weniger Probleme. Ein Gott, der das Recht
durchsetzt, muss sich gegen gewalttätige Unrechttäter behaupten können,
wenn es eine Rettung geben soll. Wie unterschiedlich diese Bewertung aus-
fällt, habe ich in meinen Studienjahren erkannt, als ich die Erzählung Jossel
Rakovers Wendung zu Gott (vgl. dazu Kolitz 2008) gelesen habe. Sie spielt
im Warschauer Ghetto zu der Zeit, als das nationalsozialistische Terrorre-
gime beschloss, das Judenviertel samt den in ihm zusammengepferchten
Nicht sieben, sondern zehn Mal lässt sich JHWH an der Nase herumführen.
9 Das wurde mir mit scharfen
Leser emails zu meinem Artikel
„Wieso lässt Gott beim Exodus
Pharaos Elitetruppe ersaufen?“
(Fischer 2011) bewusst gemacht.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven