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Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
wenigen Händen oder sogar in einer einzigen Führungspersönlichkeit wird
auf Dauer problematisch. Auf der Seite der Verantwortlichen treten Ăśber-
forderung und Erschöpfung auf, und sie bitten selbst um Entlastung (Ex
18,13–18; Num 11,14f.). Als Folge begehrt das Volk gegen sie auf und stellt
ihre Rolle als für die Gemeinschaft hilfreich in Frage. Die Wüstenerzäh-
lungen zeigen erstaunlicherweise auf, dass jene, die andere in die Freiheit
begleiten, nach erfolgreicher Mission auch loslassen und ihre Macht de-
mokratisch auf viele Verantwortungsträger verteilen müssen. Für diesen
Prozess steht jeweils die Chiffre der Ältesten, die das Volk als Ganzes reprä-
sentieren (Ex 18; Num 11). Unter ihnen darf man sich keine Versammlung
alter Männer vorstellen, vielmehr handelt es sich um die Versammlung der
Erstgeborenen, die als Patriarchen ihre Familien vertreten. Wenn die Väter
früh verstorben sind, können dies auch Zwanzigjährige sein, nur eben kei-
ne Frauen. Diese haben im Rechtssystem Israels keinen institutionalisier-
ten Sitz und keine reguläre Stimme, wenngleich wir Texte haben, die von
Frauen in der Funktion der Richterin wissen (Ri 4,4).
Der dritte Typus von Erzählungen um die Risiken der Freiheit – nach je-
nen um die Versorgung mit dem Ăśberlebensnotwendigen und den Kon-
flikten um die Autorität der Führungspersönlichkeiten – sind Kriegstexte.
Sie stellen Auseinandersetzungen mit autochtonen BewohnerInnen des
Landes vor, die die Neuankömmlinge oder Durchziehenden als Bedrohung
wahrnehmen und daher bekämpfen. Alle diese Konflikte gehen für die Is-
raelitInnen gut aus, weil Gott teils unter Zuhilfenahme von Naturphäno-
menen (Ex 14,15–29) für sie eingreift, wenn sie zu ihm schreien. Aber sie
machen auch deutlich, dass der Gang in die Freiheit nicht ein fĂĽr alle Mal
konfliktloses, behĂĽtetes Leben bedeutet, sondern andere, neue und unvor-
hergesehene Hindernisse, die sie sogar in Lebensgefahr bringen können.
Der liminale Raum, in dem Befreite leben, bis sie sich in anderem Kontext
integrieren und ein neues Leben anfangen können, birgt also seine Risiken.
Wer in die Freiheit aufgebrochen ist und/oder sich befreien hat lassen, hat
so manche Prüfung zu bestehen, die auch zur Versuchung der Verklärung
einer durchaus nicht gloriosen Vergangenheit oder sogar zu Misstrauen
gegenĂĽber jenen, die beim Exodus hilfreich waren, fĂĽhren kann. Freiheit
ist zudem kein Gut, das man ein fĂĽr alle Male erreicht hat, sondern das
täglich neu bedroht sein kann. Aufgrund dieser Tatsache ist der Exodus im
Der liminale Raum, in dem Befreite leben, bis sie
ein neues Leben anfangen können, birgt seine Risiken.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven