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Irmtraud Fischer | Das Exodus-Paradigma
Israels Welt erzeugende Erzählung der Befreiung aus der Sklaverei begann
hingegen nicht mit zu befolgenden Vorschriften, die man nur strikt genug
einhalten müsse, um befreit zu werden. Sie endete vielmehr mit der Ein-
sicht, dass Freiheit konstruktive Regeln braucht, und ist daher unlösbar mit
einem Befreiungsgeschehen verbunden, das Menschen nicht selbst her-
stellen können. Wo aber der Wille zur Selbsterlösung dominiert, braucht
es freilich keine Befreiung, keinen befreienden Gott und auch keine Men-
schen, die einem aus ungeschuldeter Zuwendung bei der Meisterung des
Lebens und seiner Abgründe zur Seite stehen. Man kauft sich dafür viel-
mehr Kompetenz zu, wodurch sogar lebensbewahrende Hilfestellungen
zur eigenen Leistung werden, da man sie ja bezahlt hat. Hartmut Rosa sieht
unsere derzeitige Gesellschaft deswegen in massiver Bedrohung, weil die
Weltbeziehungen der Menschen stumm geworden sind. Die verknüpfenden
Ströme über die Resonanzachsen, die Individuen wie soziale Einheiten mit
dem Transzendenten, mit den Mitmenschen, den Dingen, aber auch mit
sich selbst verbinden, sind versiegt. Rosas neuestes Buch setzt gegen diese
Diagnose den Wert der Unverfügbarkeit: Weltbeziehungen sind nur dort in
aller Intensität gegeben, wo sie nicht verdinglicht und verzweckt werden,
dem Gegenüber die Unabhängigkeit belassen, und dieses nicht für eigene
Zwecke vereinnahmt wird. Befreiung geschieht damit nicht nur von oben,
sondern in Relationalität, die allein Freiheit auch auf Dauer gewährleisten
kann, wenn widrige Umstände sie abermals gefährden (vgl. Rosa 2018).
Psalm 22,2–5 drückt das Eingebundensein biblischer Befreiung in ein
fruchtbares Beziehungsgeschehen eindrücklich aus: Gott wird angerufen
als mein Gott, obwohl doch der Beter sich von ihm verlassen fühlt. Die Be-
ziehung scheint von göttlicher Seite aus stumm geworden zu sein, da er
nicht mehr antwortet (V2f.). Aber weil seit Generationen Menschen ihn
angerufen haben und daraufhin erhört worden sind, thront er über dem
Lobpreis Israels. Diese majestätische Metapher setzt die beidseitige Be-
ziehung, die nicht nur die Befreiung ermöglicht, sondern dadurch jeweils
Gottes Bedeutung erhöht, hervorragend ins Bild. Vertrauen und die expli-
zite Bitte um Befreiung haben die Gottheit immer wieder rettend handeln
lassen, woraufhin die Menschen ihren Dank vor versammelter Gemeinde
abstatteten. Die Hoffnung, dass auch der den Psalm betende Mensch das
tun wird können, wird dann auch erfüllt (V23), wodurch der Lobpreis Israel
Allein Relationalität kann Freiheit
auch auf Dauer gewährleisten.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven