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Gunda Werner | Freiheit und Sünde
nem Bereich des Lebens. Die Vorstellung einer Freiheit, die sich auch in der
Meinungs- und Politikfreiheit niederschlagen könne und dafür die Form
der parlamentarischen Versammlung oder sogar Demokratie findet, ist
noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts unvorstellbar.12 Freiheit als Wil-
lensfreiheit, so wird lehramtlich festgelegt, ist maximal als Wahlfreiheit
zwischen Gut und Böse denkbar. (Vgl. dazu ausführlich Werner 2019) Ein-
hergeht, und dies zeigt die innere Verbindung der Freiheit zur Sünde, die
Moralisierung des einzelnen Subjekts mit einer größtmöglichen Kon
trolle.
(Vgl. dazu den Überblick bei Essen 2012b) Die Handlungsfreiheit geriet da-
rüber in den Hintergrund. Allerdings blieben die kognitiven Dissonanzen
nicht aus und der Widerstand sowie das eigene Denken konnten auch durch
Sanktionen nicht bleibend unterbunden werden.
c) Theologische Wiederentdeckung
Diesen „Wundstarrkrampf“13 (so Hermann Pesch), der die Kirche befal-
len hatte, bricht das II. Vatikanum auf. Mit dem II. Vatikanum sind grund-
legende Veränderungen und vor allem die Frage nach dem Umgang mit
der Moderne in den praktischen Konsequenzen kirchlicher Strukturen und
kirchlichen Selbstverständnisses verbunden.
Aber auch hier wird das Verständnis der Freiheit zum Lackmustest der
Öffnung zur Moderne – der Freiheit der Gläubigen also, ihr Leben und ih-
ren Glauben zu gestalten. Zu erkennen ist dies vor allem an der Frage der
Gewissensfreiheit ebenso wie der Religionsfreiheit. Theologiegeschicht-
lich kann gesagt werden, dass der Kernbegriff des Themas, also das libe-
rum arbitrium , in den die Freiheit des Menschen betreffenden Dokumenten
des Konzils, also Lumen Gentium, Dei Verbum, Gaudium et Spes, Dignitatis
Humanae
, nicht vorkommt. Die menschliche Freiheit wird hingegen in dem
Kontext der Gewissensfreiheit konkretisiert, vor allem aber wird sie erwei-
tert, denn die Zuordnung von Freiheit und Sünde wird insofern verändert,
als die Freiheit auf die Instanz des Gewissens zurückgebunden wird und so
eben der Diskurs über den freien Willen in den Hintergrund rückt.
Der genauere Blick in die Texte des II. Vatikanums zeigt eine Hochachtung
vor dem Gewissen und der Gewissensfreiheit, sie knüpfen damit deutlich
an die Gewissenskonzeptionen der Tradition an. Allerdings steht die Ge-
12 Vgl. die Entscheidung des I. Va-
tikanischen Konzils in Dei Filius
(DH 3000–3045, v. a. 3015–3020).
13 https://www.muenster.
de/~angergun/pesch-interview.
html [11.11.2018].
Das II. Vatikanum bricht den „Wundstarrkrampf“,
der die Kirche befallen hatte, auf.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven