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Hildegard Wustmans | Missbrauch – die Verspottung der Freiheit
Dem Missbrauch entkommen: Freiheit zurückgewinnen
Wer als Opfer in den Koordinaten von Missbrauch gestanden hat, steht vor
der mühsamen und schmerzlichen Aufgabe, wieder selbstbestimmt hand-
lungs- und entscheidungsfähig zu werden. Dieser Prozess ist mühsam,
denn das Opfer ist in der „traumatischen Zange“ gefangen und muss sich
daraus befreien.3
„Dabei geht es nicht nur um das Erringen von Selbstbestimmung, son-
dern vor allem auch um das Heilen von und das Leben mit Wunden, um
eine spirituelle Entgiftung. [...] Die Wunden, die ihnen geschlagen wor-
den sind, müssen gereinigt und verbunden werden, und gute, gesunde
neue Nahrung muss die Nährstoffe liefern, ohne die der Heilungsprozess
nicht gelingen kann.“ (Wagner 2019a, 172)
Der Heilungsprozess und der gesunde Rahmen einer geistlichen Beglei-
tung spielt sich auf drei Ebenen ab: jener der betroffenen Person, jener der
Begleiter*innen und Verantwortlichen Diözesen und jener Gottes.
Für die betroffenen Personen besteht die Herausforderung darin, zu ler-
nen, sich selbst zu trauen: auf die eigene Intuition und das eigene Gefühl
neu hören zu lernen und damit wieder in Alternativen denken zu können.
(Vgl. Wagner 2019b)
Begleiter*innen müssen „unendlich behutsam sein. Das erste Gebot ist
Zurückhaltung.“ (Wagner 2019a, 177) Und diese Zurückhaltung muss ge-
paart sein mit Geduld und der Bereitschaft und Fähigkeit zuzuhören und
zu glauben. Es geht in diesen fragilen Kontexten in besonderer Weise da-
rum, dass zerstörtes Selbstvertrauen und Selbstachtung wieder mühsam
erlernt werden müssen. Man hat es mit einem schmerzlichen Entgiftungs-
prozess zu tun. Das braucht unendlich viel Mut von Seiten der Betroffe-
nen und Begleiter*innen kommt die Aufgabe zu, Zutrauen, unbedingten
Respekt und Sicherheit zu geben. „Und es braucht die Erlaubnis, frei sein
und sich selbst vertrauen zu dürfen.“ (Wagner 2019a, 179–180) In diesem
Prozess der spirituellen Entgiftung sollten auch neue spirituelle Ressour-
cen erschlossen werden. (Vgl. Wagner 2019a, 180) Das bedeutet, ein vielfäl-
tiges Spektrum anzubieten und nicht die eine Form von Spiritualität. Dabei
kommt es auch darauf an, die Betroffenen zu ermutigen und ihnen glaub-
3 Mit dem Begriff der „traumati-
schen Zange“ bezeichnet Michaela
Huber den Vorgang, in dem Men-
schen in Situationen, gegen die sie
sich nicht wehren oder vor denen sie
nicht fliehen können, im wahrsten
Sinn des Wortes erstarren und das
traumatische Ereignis abspalten.
Vgl. Huber 2012.
Die Herausforderung besteht darin, wieder zu lernen, sich selbst zu trauen.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven