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Franz Winter | Hat neben Gottes Allmacht der freie Wille noch Platz?
im Koran ganz mit dem Wirken und Wollen Gottes verbunden wird (Sure
63,11): „Aber Gott wird niemandem Aufschub gewähren, wenn seine Frist
kommt.“ Ähnlich auch an anderer Stelle (Sure 6,2): „Er ist es, der euch aus
Lehm geschaffen hat und hierauf (für euer Leben) eine Frist bestimmt hat.
Eine bestimmte Frist ist bei ihm (unabänderlich festgelegt).“5
Hier klingt nun bereits ein Thema an, das für die nachfolgende religiöse
Entfaltung ganz zentral werden wird, nämlich dass es eine bereits vorlie-
gende Aufzeichnung allen Geschehens gäbe, ein „Buch“ (kitāb), in dem al-
les enthalten ist, wie etwa in folgender Formulierung (Sure 57,22): „Kein
Unglück trifft ein, weder (irgendwo) auf der Erde noch bei euch selber, ohne
dass es in einer Schrift (verzeichnet) wäre, noch ehe wir es erschaffen.“
Diese Vorstellung von einem primordialen Buch bezog sich ursprünglich
mehr auf das eschatologisch zu erwartende Ergebnis der Taten jedes Men-
schen (beim Endgericht), umfasste dann aber in einem immer größeren
Ausmaß auch die Taten selbst, die alle bereits aufgezeichnet vorliegen (vgl.
Sure 17,3–4.71; 45,28–29; 84,7–12), bzw. überhaupt alles, was geschieht
(vgl. v. a. Sure 6,59). Diese Vorstellung von einer bereits voranfänglich fi-
xierten und unveränderbaren Festlegung der Geschehnisse dieser Welt
und vor allem der Taten jedes einzelnen Menschen ist dann im Koran mit
Begriffen wie „Mutter des Buches“ (umm al-kitāb), „verborgenes Buch“
(kitāb maknūn) oder „behütete Tafel“ (lauḥ maḥfūz) verbunden.
Das dahinterliegende Konzept bezieht sich sowohl auf die Vorstellung einer
Quelle bzw. eines Ausgangspunktes (aṣl) als auch der Gesamtheit (jumla)
aller Offenbarungen, einschließlich des Koran, aber auch als Aufzeichnung
aller Dinge, die seit der Schöpfung geschehen sind und alles, was bis zum
finalen Tag noch geschehen wird (zur Genese dieser spezifischen Vorstel-
lung vgl. Nagel 1983; Madigan 2004). Mit der Vorstellung von einer defi-
nitiven „Nacht der Bestimmung“ bzw. der „Nacht der Macht“ (lailat al-
qadr),6 in der der Koran als Ausfluss dieser überirdischen Aufzeichnungen
herabgesandt wurde, erfährt dieser Vorstellungskomplex zudem eine frühe
rituelle Konkretisierung in der islamischen Gemeinde (vgl. Sure 97).
Mit diesen Inhalten sind selbstredend Konzepte verbunden, die das Mo-
ment der Vorherbestimmung allen Geschehens einschließlich der Taten
der Menschen stark in den Vordergrund rücken. Mit allen diesen Themen
wird allerdings noch nicht die Frage nach dem menschlichen Anteil in die-
sem Zusammenhang angesprochen. Streng deterministisch könnte bei-
Ein „Buch“ (kitāb), in dem alles enthalten ist
5 Allah als Herr der Zeit bzw. über-
haupt als gleichgesetzt mit „Zeit“
(dahr), tritt in der Hadith-Literatur
an prominenter Stelle in Form eines
ḥadīth qudsi (d. h. einer direkten
Aussage Allahs) entgegen und for-
muliert gegen „die Söhne Adams“,
die die „Zeit missbrauchen“, dass
Allah selbst die „Zeit“ ist: „ich bin
die Zeit“ (ana ad-dahr); vgl. Graham
1977, 212–214, mit der Übersetzung
dieses Textes: „God said: ‚The son
of Adam vexes Me when he curses
Time, for I am Time! In my hand is
the command [of all things]. I cause
the night and day to follow one upon
the other‘“; und weiteren Variatio-
nen.
6 Zu den unterschiedlichen Über-
setzungen und Interpretationen
des Begriffs qadr, die schon in der
islamischen Tradition zwischen
„Kraft“, Bestärkung“ (und damit zu
qudra) oder „göttliche Vorbestim-
mung“ (und damit zu qadar) oszil-
lierte, vgl. Sells 1991, 255 mit Fn. 50.
Eine Art Kompromissinterpretation
bei Lohmann 1969, 280: „Die Nacht
Al-Qadr ist nicht nur eine ganz be-
stimmte, im Heilsplan Gottes von
Anfang an genau festgesetzte Nacht,
in der mit der Herabsendung des
Korans an Muhammed begonnen
worden ist, sondern auch die Nacht,
in der das weitere Schicksal von Welt
und Mensch in allen Einzelheiten
festgelegt wird.“
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 2:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 2:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 267
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven