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Daniel Pachner | Wirklichkeit und Erfahrbarkeit digitaler Welten
Das Virtuelle als Gegensatz zum Realen
Umso wichtiger ist es, sich klarzumachen, was digitale Welten als solche
ausmacht und wie sich diese Verschränkung von „echter“ Welt und dem
Digitalen zeigt. Bei digital erzeugten, künstlichen Welten steht besonders
die Frage nach ihrer Realität im Fokus. Ein durchgängiges Schema, das bei
Hundeck bereits zum Vorschein kam, ist die Auffassung des Virtuellen als
eines Gegensatzes zum Realen. Klaus Müller, der den Ursprung des Be-
griffs des Virtuellen bei Duns Scotus verortet, bleibt eine genaue Bestim-
mung schuldig. Er versteht darunter eine „mögliche Wirklichkeit“ (Müller
2011, 91), von der sich aber nur schwer sagen ließe, ob sie selbst real oder
nur möglich sei. Für eine ontologische Bestimmung des Virtuellen bedeute
diese Unentscheidbarkeit, dass der Begriff des Seins an Festigkeit verliere:
„Die heutige Virtualitätsthematik […] behauptet ontologisch gesehen
Nichtseiendes als existent und gibt das Prädikat ‚sein‘ für ontologisch
Existentes im traditionellen Sinn auf.“ (Müller 2011, 91)
Die damit einhergehende Verflüssigung der Ontologie (vgl. Müller 2011,
92) schließe auch den Verlust eines Bezugs zur Wirklichkeit als Referenz-
rahmen ein, von dem aus das Sein oder Nicht-Sein des Virtuellen beurteilt
werden könne. Die Folge ist, dass Virtualität als ein Begriff verstanden wer-
den muss, bei dem „die Demarkationslinie zwischen Sein und Schein, Fak-
tum und Fiktum fließend wird“ (Müller 2011, 88).
Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Sein und Schein findet sich bei
Manfred Negele, der von Kant her die Wirklichkeit des Virtuellen zu be-
stimmen versucht. Dass man zur Erfahrung des Virtuellen ein Medium be-
nutzen muss, sei es nun ein Monitor oder eine Virtual-Reality-Brille, führe
dazu, dass virtuelles Erfahren grundsätzlich von der unmittelbaren, natür-
lichen Erfahrung unterschieden werden müsse:
„Es ist nur ein Ersatz, eine Prothese für eine eigentliche sinnliche Erfah-
rung im Sinne Kants. Erzeugt wird nur der Schein einer echten sinnlichen
Erfahrung, man könnte sagen eine sinnliche Erfahrung zweiten Ranges
oder eine Simulation […]. Wir konstruieren Welten, die der Sinnlichkeit
nicht gegeben sind. Aber wir tun noch mehr: Wir machen der Sinnlich-
keit vor, etwas für sie Erfaßbares vorweisen zu können. Wir potenzieren
Wird die Demarkationslinie zwischen Sein und Schein fließend?
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven