Page - 23 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
Image of the Page - 23 -
Text of the Page - 23 -
23 | www.limina-graz.eu
Daniel Pachner | Wirklichkeit und Erfahrbarkeit digitaler Welten
damit also den Schein, den wir erzeugt haben, und lĂĽgen uns ein zweites
Mal an, wenn wir an die Realität dieser Scheinwelten glauben.“ (Negele
2000, 22)
Zwar schwächt Negele diese Position vor dem Hintergrund der Überlegung
ab, dass eine vollständige Gewissheit über die Wirklichkeit der „echten“
Welt nie ganz zu haben sei, doch auch bei ihm bleibt es bei einer gewissen
Unentschiedenheit in Bezug darauf, was nun Schein oder Sein am Virtu-
ellen sei und wie entschieden werden könne, worum es sich handle (vgl.
Negele 2000, 29–31).
Es herrscht also einiges an Unsicherheit beim Begriff des Virtuellen, insbe-
sondere wenn es um digital erzeugte virtuelle Welten geht. Diese Begriffs-
verwirrung ist einer allgemeinen Unschärfe geschuldet, die auch mit der
Verwendung des Begriffs im anglo-amerikanischen Sprachraum zusam-
menhängt, durch die theologischen Wurzeln des Begriffs und seine heutige
Verwendungsweise nochmals größer wird und die das Virtuelle irgendwo
zwischen Sein und Schein sieht (vgl. MĂĽnker 2005, 244). Auch Frank Hart-
mann, der der Digitalisierung eher positiv gegenĂĽbersteht, geht davon aus,
dass es angesichts der Weise, wie digitale Inhalte wahrgenommen wer-
den, „wohl keinen Sinn mehr macht, die traditionelle Differenzierung von
Schein und Wirklichkeit aufrecht zu erhalten“ (Hartmann 2018, 118–119).
Gegen die Entgegensetzung von Virtuellem und Realem hat Pierre Lévy in
seinem Beitrag „Welcome to Virtuality“ dafür plädiert, das Virtuelle nicht
als Gegensatz zum Realen zu verstehen, sondern zum Aktuellen. Ein Com-
puterspiel oder eine Simulation, wie sie durch Virtual-Reality-Program-
me möglich wird, versteht Lévy als „virtual messages“ (Lévy 1997, 6), die
fĂĽr einen Benutzer oder eine Benutzerin durch die Ăśbersetzung des Bi-
när-Codes mithilfe eines Computers verstehbar werden. Wenn diese Über-
setzungsarbeit noch nicht geleistet ist und die durch das Programm zu er-
zeugenden Bilder einem User (Nutzer/in) noch nicht zugänglich sind, dann
mĂĽsse man das gespeicherte Bild als virtuell verstehen. Dementsprechend
versteht Lévy unter Virtualisierung „digitalisation“ (Lévy 1997, 6) und die
Aktualisierung als Anzeige am Monitor oder „display“ (Lévy 1997, 6).
Die Frage nach der Realität des Virtuellen stellt sich für Lévy dabei nicht
mehr, sondern diese wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Zentral für
seine Auffassung des Virtuellen ist der mediale Charakter des Virtuellen,
Oder stellt sich die Frage nach der Realität des Virtuellen nicht mehr?
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven