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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
chen. Personales Selbstverständnis ist nicht das Resultat eines passiven
Bewusstseins, das Informationen von außen empfängt und dann aufgrund
intern vorliegender Strukturen darauf mit einem entsprechenden Output
reagiert. Vielmehr zeigt sich Bewusstsein vornehmlich in unseren prakti-
schen VollzĂĽgen, wenn wir aktiv ordnend vorgehen, Erfahrungen zu Ein-
heiten zusammenfassen, Gründe abwägen und Entscheidungen treffen.3
Auf die Debatte von Identität und Kontinuität bezogen, bedeutet dies:
Wenn ich morgens aufstehe, prĂĽfe ich nicht zuallererst aus Sicht einer ex-
ternen Perspektive, ob die metaphysischen Bedingungen vorliegen, welche
die Annahme meiner Identität in der Zeit rechtfertigen. Vielmehr identifi-
ziere ich mich im Normalfall unmittelbar mit der Person, die gestern Abend
zu Bett gegangen ist, da sich keine größeren bemerkbaren Veränderungen
physischer und psychischer Natur ergeben haben. Ich erfahre mich als eine
Einheit mit „meinem gestrigen Ich“, weil ich eine Perspektive der Selbst-
identifikation einnehme und meine Erinnerungen in mein jetziges Selbst-
verständnis integriere und nicht weil ich mich, ausgehend von einer exter-
nen Perspektive, auf metaphysische Identitäts- oder Kontinuitätsbedin-
gungen beziehe.
Diese Überlegungen legen nahe, dass die eigentliche Lösung hinsichtlich
der skizzierten Verdoppelungsszenarien weniger auf der metaphysischen
Ebene innerhalbe der Debatte von strikter Identität und (hinreichend star-
ker) Kontinuität verhandelt wird als vielmehr auf der praktisch-evaluati-
ven Ebene, sich selbst als einheitliche Person in der Zeit begreifen zu kön-
nen. Eine eindeutige aktive Identifikation ist beim Vorhandensein mehre-
rer koexistierender und qualitativ identischer Individuen wohl kaum mehr
möglich – unabhängig davon, ob metaphysisch befunden wird, dass zu
allen vorliegenden Individuen eine Kontinuitätsrelation oder aber nur zu
einem eine strikte Identitätsrelation besteht –, da eine klare Abgrenzung
hin zu nicht-identischen, aber unter qualitativer RĂĽcksicht ĂĽbereinstim-
menden Individuen nicht möglich sein dürfte.
In Verdoppelungsszenarien werden Selbstidentifikations- und Selbstinte-
grationsprozesse, die überhaupt erst ein Verständnis von uns selbst als
Person im Sinne einer strukturierten Einheit mit einer spezifischen Per-
spektive auf die Wirklichkeit ermöglichen, unterminiert. Wir sind nicht in
der Lage, die Perspektive mehrerer koexistierender Individuen zugleich
Wir fĂĽhren ein Leben, das wir uns als solches
aneignen und zu unserem Leben machen.
3 Diesen Punkt unterstreicht z. B.
Korsgaard 1999.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven