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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
einzunehmen; die Fähigkeit, dies zu tun, dürfte nicht in die uns vertraute
Lebensform als menschliche Person integrierbar sein, da diese durch eine
durch Einheitlichkeit charakterisierte Perspektive auf uns selbst und auf
die Welt gekennzeichnet ist.
Viertens: An dieser Stelle sei noch auf eine weitere Dimension verwiesen,
die in der vorliegenden Debatte oft mitschwingt, doch selten explizit the-
matisiert wird, aber zur Erfahrung personaler Einheit auf gewichtige Weise
beitragen dürfte: unsere verkörperte Existenzweise. Ich habe eingangs be-
züglich der Frage nach der menschlichen Natur auf zwei unterschiedliche
Antworten aufmerksam gemacht. Angemessener scheint allerdings die An-
nahme zu sein, dass unser Person-Sein und unser Organismus-Sein nicht
einander gegenüberstehen und sich gegenseitig ausschließen, sondern
dass sie vielmehr ineinander verschränkt sind. Wir erleben uns im Nor-
malfall als verkörperte und bewusste Lebewesen, nicht als verkörperte oder
bewusste Lebewesen. Diese beiden Dimensionen unserer Existenz erfah-
ren wir im Normalfall nicht als konfliktbeladen und in einem andauernden
Spannungsverhältnis zueinander, sondern als einheitliches Phänomen,
welches unsere spezifische Lebensform charakterisiert. Die häufig bemüh-
te Dualität zwischen subjektiver Teilnehmer- und externer Beobachter-
perspektive verläuft nicht, wie oft suggeriert, entlang der Dimensionen von
Bewusstsein und Körperlichkeit, sondern wir können beides, Bewusstsein
und Körperlichkeit, als etwas unmittelbar subjektiv Zugängliches erfahren
oder aus einer distanzierten Beobachterperspektive wahrnehmen.
Gerade die Tradition der Phänomenologie hat auf die subjektive Dimen-
sion unserer verkörperten Existenzweise explizit und im Detail aufmerk-
sam gemacht, indem zwischen „Körper“ und „Leib“ unterschieden wird.
Während mit dem Begriff „Körper“ materielle Gegenstände von einem
nicht-perspektivischen, objektiven Zugang aus bezeichnet werden, soll
mit dem Begriff „Leib“ das subjektive Erfahren unserer körperlichen Ver-
fasstheit eingefangen werden. So schreibt Husserl:
„Der Leib wird natürlich auch gesehen wie jedes andere Ding, aber zum
Leib wird er nur durch das Einlegen der Empfindungen im Abtasten,
durch das Einlegen der Schmerzempfindungen usw., kurzum durch die
Lokalisation der Empfindungen als Empfindungen.“ (Husserl 1952, 151)
Person-Sein und Organismus-Sein stehen einander
nicht gegenüber, sondern sind ineinander verschränkt.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven