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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
einer einheitlichen Perspektive. Es ist nicht so, dass verschiedene
Handlungsoptionen einfach vorliegen und sich dann jene mit der
größten kausalen Stärke gegenüber den anderen durchsetzt, wäh-
rend das involvierte Individuum nur aus der Teilnehmerperspek-
tive beobachtend feststellt, was gerade in ihm vorgeht und welche
kausalen Verlaufsstränge sich als die wirkmächtigen erweisen und
in einer Handlung ihren Niederschlag finden. Als rational handeln-
de Wesen nehmen wir vielmehr eine aktiv-einheitliche Perspektive
auf die wahrgenommenen Handlungsoptionen ein; dabei handelt
es sich um eine praktisch notwendige Voraussetzung, da der Ent-
schluss, eine bestimmte Handlungsoption zu ergreifen, auch den
Entschluss mit sich bringt, mögliche alternative Handlungsoptio-
nen (zumindest vorerst) zurückzuweisen und nicht weiter verfol-
gen zu können (siehe Korsgaard 1999).
̟ Schließlich sei betont, dass die für uns charakteristische verkör-
perte Existenzform nicht von sekundärer Bedeutung ist, sondern
intrinsisch verschränkt mit unserem Bewusstsein auftritt. Wenn
etwa Lynne Rudder Baker in ihrem Personenmodell den mensch-
lichen Organismus als notwendige Konstitutionsbasis für das Per-
sonen auszeichnende robuste Bewusstsein bestimmt, so kommt
dem Organismus dieses Bewusstsein nur auf abgeleitete Weise zu,
während die Person dieses Bewusstsein direkt hat. Baker geht da-
von aus, dass der menschliche Organismus auch durch ein anderes
Medium ersetzt werden könnte, solange die erforderliche Konsti-
tutionsleistung – die Ausbildung des für menschliche Personen
charakteristischen Bewusstseins – durch dieses erbracht werden
kann (vgl. Baker 2011, 50). Eine solche Loslösung der für uns cha-
rakteristischen Körperlichkeit dürfte allerdings unterschätzen, wie
sehr die Art und Weise unserer körperlichen Ausprägung unser Be-
wusstsein prägt und in seiner Funktionsweise mitbestimmt. Baker
operiert mit einer verkürzten und inadäquaten Gegenüberstellung
von erstpersönlicher Bewusstseins- und drittpersönlicher Körper-
perspektive, während die zuvor angesprochene Dimension des Lei-
bes unter den Tisch fällt. Diese ist allerdings in der Lage, zwischen
beiden Perspektiven zu vermitteln, indem sie auf die Verschrän-
kung unserer Existenzweise als gleichermaßen verkörpert und be-
wusst aufmerksam macht.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven