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Georg Gasser | „I0I00I0II ... Ich, digital?“
unserem Leib nehmen wir eine Perspektive auf die Welt ein, die sich nicht
in einer reinen Beobachterperspektive erschöpft, sondern ein teilnehmen-
des aktives Individuum umfasst, welches die Augen oder den Kopf bewegt
oder die Körperhaltung neu ausrichtet, relativ zu den Interessen, die mit
dem wahrgenommenen Objekt in der Welt, auf welches die Aufmerksam-
keit gerichtet ist, verknüpft sind. Unser perspektivischer Zugang zur wahr-
genommenen Wirklichkeit ist niemals der des völlig neutralen externen
Beobachters, sondern stets durch die tätig-aktive Ausrichtung auf die Welt
durch unseren Leib mitgeprägt.
Die bisherigen Ausführungen haben sich auf die Annahme bezogen, dass
ein adäquates Verstehen geistiger Vollzüge den unmittelbaren Bezug auf
die eigene Körperlichkeit bzw. – phänomenologisch gesprochen – die
Leiblichkeit miteinschließt. In einem weiteren Schritt gehe ich näher auf die
Eigenart unseres unmittelbaren Zugangs zum eigenen Körper ein und ar-
gumentiere dafür, dass sich die konkrete Struktur unseres Körpers nicht auf
beliebige Weise modifizieren lässt, sondern solchen Modifikationen enge
Grenzen gesetzt sind. So macht etwa Helena De Preester (2011) auf zahl-
reiche empirische Belege aufmerksam, die darauf hindeuten, dass es ein in
uns angelegtes Körpermodell gibt, welches festlegt, was als eigener Kör-
perteil zählen kann und was nicht. Anders ausgedrückt: Wenn es ein solches
Körpermodell gibt, dann sind uns Grenzen gesetzt, externe Körperteile in
unser Körpermodell integrieren oder den Körper beim Mind-Uploading so-
gar gänzlich in seiner Form verändern zu können.
Anhand des Experiments der Gummihand-Illusion5 argumentiert De Pree-
ster dafür, dass der falsche Eindruck der Versuchspersonen, sie würden
mit der Gummihand fühlen können, nur deswegen auftreten kann, da sie
ihre wirkliche Hand nicht sehen können und die Gummihand in ihrer ana-
tomischen Struktur und Position der wirklichen Hand so weit entspricht,
dass eine Täuschung ermöglicht wird. Die Illusion entsteht also dadurch,
dass die gefühlten visuellen und taktilen Stimuli ebenso auf der wirklichen
Hand erfolgen, wie sie auf der Gummihand simuliert werden, und Letztere
aufgrund ihrer Lage und ihres Aussehens dem uns grundgelegten Körper-
modell entspricht. Somit wird aufgrund dieses spezifischen Settings eine
Verwechslung der Gummihand mit der wirklichen Hand ermöglicht, da die
Gummihand in unser Körpermodell integriert werden kann. Das Gefühl,
Mit unserem Leib nehmen wir eine Perspektive auf die Welt ein,
die sich nicht in einer reinen Beobachterperspektive erschöpft.
5 Vgl. dazu Botvinick/Cohen 1998:
Im Experiment wird bei den Teil-
nehmerInnen die Illusion erzeugt,
dass die Gummihand integraler Be-
standteil ihres Körpers sei.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven