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Herbert Hrachovec | Omnipräsenz / Telepräsenz
Der folgende Beitrag besteht aus zwei Einleitungen, aus denen zwei unter-
schiedliche Fortsetzungen entwickelt werden. Dass die beiden themati-
schen Fäden einander überkreuzen, führt zur Frage, ob es sich dabei um ein
Zufallstreffen oder eine sachlich nachvollziehbare Begegnung handelt. Das
eine Thema ist die Allgegenwart Gottes, das andere die Allgegenwärtigkeit
nachrichtentechnischer Apparate zur Kommunikation und Überwachung
der Erdbevölkerung.
Einleitung 1
Im frühen 5. Jahrhundert schreibt Augustinus, Bischof von Hippo, an einen
hohen römischen Staatsbeamten, Dardanus, den praefectus praetorio Gal
liarum mit Sitz in Trier. Dieser verdienstvolle Jurist und Christ hatte sich
Gedanken über ein Wort des sterbenden Jesus gemacht. Nach Lk 23,43 ver-
hieß er dem Schächer auf seiner rechten Seite: „Heute noch wirst du mit
mir im Paradies sein.“ Dardanus will es genau wissen. „Heute“ liegen die
beiden jedenfalls unter der Erde. Und außerdem: Ist das Paradies ein Ort
im Himmel? Oder kann man aus der Verheißung schließen, dass für einen
Mann in Gott, wie für Gott selbst, Allgegenwart anzunehmen sei (Augusti-
nus 1911, § 3)? Augustinus antwortet mit einem Traktat über die Anwesen-
heit des „mediator dei et hominum homo Christus Jesus“ (1 Tim 2,5) in der
irdischen und himmlichen Sphäre. Der menschgewordene Gottessohn hat
ein einzigartiges, in sich gegliedertes, Verhältnis zu diesen Orten.
Jesus Christus ist, nach dem chalzedonischen Glaubensbekenntnis, eine Art
metaphysisches Komposit1 zwischen himmlischer Seinsweise und irdischer
Existenz (hypostatische Union). Seine Person partizipiert in gleicher Weise
an göttlichen und menschlichen Eigenschaften. Augustinus differenziert in
kasuistischer Brillianz, welche Räumlichkeiten dabei zusammenkommen.
Der Mensch Jesus kann nicht gemeint haben, dass er am besagten Tag im
Himmel sei, er liegt im Grab.2 In seiner Gottesnatur ist dagegen begründet,
dass er (die Person, unter diesem Aspekt betrachtet) von einem Ende zum
anderen Ende reicht, und zwar überall hin, wegen seiner Reinheit (Augus-
tinus 1911, § 7). Die gute Nachricht für Dardanus ist also: Wo immer das
Paradies liegen mag, die Erlösten sind dort mit ihm, der überall ist.3
Es kostet Mühe, diesen Gedankengängen zu folgen. Doch sie haben das
christliche Abendland jahrhundertelang geprägt. Bevor darauf näher ein-
gegangen wird, sei noch eine bemerkenswerte Erläuterung Augustins
notiert. Im Kapitel 11 seines Lehrbriefes analysiert er die Einzigartigkeit
1 Nach der Wikipedia „ein
Werk-
stoff aus zwei oder mehr verbunde-
nen Materialien, der andere
Werk-
stoffeigenschaften besitzt als seine
einzelnen Komponenten.“ (https://
de.wikipedia.org/wiki/Verbund-
werkstoff [15.02.2020])
2 Für Augustinus trennt sich beim
menschlichen Tod die Seele vom
Leib. Er diskutiert, in welchem Sinn
nach apostolischer Überlieferung
Jesu Seele „zur Hölle abstieg“, um
schuldlose Verstorbene zu retten.
3 „quisquis beatorum ibi est, cum
illo ibi est, qui ubique est“ (Augusti-
nus 1911, § 7).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven