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Herbert Hrachovec | Omnipräsenz / Telepräsenz
Eine maßgebliche Weiterführung des augustinischen Ansatzes findet sich
bei Thomas von Aquin. Er verschiebt die Blickrichtung vom biblischen Be-
fund und der platonischen Seelenlehre zur Frage nach Gottes Eigenschaf-
ten. Wir unterscheiden in unserem Verständnis von Dingen zwischen deren
unerlässlichen und deren fakultativen Beschaffenheiten.
Nach Aristoteles korrespondieren dieser Differenz Wesensbestimmungen
und akzidentelle Eigenschaften im Rahmen der Seinsordnung. Durch die-
se begriffliche Schärfung wird aus dem plotinisch-augustinischen Prob-
lem eine Untersuchung darüber, was aus dem Wesen Gottes für das We-
sen seiner Schöpfung folgt. Da Gott essentiell Sein ist („sit ipsum esse per
suam essentiam“, Thomas v. Aquin, Summa Theologiae I, 8, 1), muss das
geschaffene Sein von ihm bewirkt werden („oportet quod esse creatum sit
proprius effectus eius“, ebd.). Und da sich die Ursache mit ihrer Wirkung
notwendig verknüpft, ist Gott prinzipiell „in“ allen Dingen. Thomas fragt
weiter. Bedeutet das auch, dass er überall ist? Er beginnt mit Einwänden.
Das Wort bezieht sich auf alle Orte, an denen Körper platziert sein können.
Als in sich unteilbares, immaterielles Wesen, kann sich Gott in dieser Hin-
sicht nicht auf die Details der Welt einlassen. Die Replik auf diese Bedenken
folgt dem von Augustinus vorgegebenen Muster, nur dass dessen biblischer
„Jesus Christus“ durch die onto-theologische Konstruktion Gottes ersetzt
wird. Die Doppelqualität der hypostatischen Union wird in eine Doppeldeu-
tigkeit des Körperbegriffes übersetzt.5 Materiell ist nicht bloß die fassbare
Welt, sondern auch, in einem davon zu unterscheidenden Verständnis, die
unfassbare Wirkung auf die in ihr greifbaren Dinge. Geistiges wirkt nicht
durch seine körperliche Ausdehnung, sondern durch seine Kraft „per con-
tactum virtutis“6, und Gott als höchste Form des Geistes ist überall, so-
fern er Dingen allerorten Sein und Existenz verleiht.7 Die derart konzipier-
te Zweifachverwendung bleibt in der Folge die Lösung und das Rätsel der
scholastischen Reflexion. In der Fachliteratur wird dieser Themenkomplex
noch immer lebhaft diskutiert.
Einige Beispiele seien genannt. Im Cambridge Companion to Christian Philo
sophical Theology beginnt William J. Wainwright (Wainwright 2010) seine
Ausführungen zur „omnipresence“ unvermittelt mit einer Diskussion des
Themas in Thomas’ Summa Theologiae. Er referiert den Forschungsstand
betreffend Gottes Verkörperung („embodiment“), in dessen Zentrum die
Gott ist „in“ allen Dingen.
Bedeutet das auch, dass er überall ist?
5 „incorporalia non sunt in loco per
contactum quantitatis dimensivae,
sicut corpora: sed per contactum
virtutis.“ (Summa Theologiae I, 8, 2
ad1) („quantitas dimensiva“: quan-
titative Ausdehnung)
6 Siehe Anmerkung 5. Thomas
unterscheidet die „Berührung
durch Kraft“ von der Berührung
zwischen Körpern. Der begriffliche
Kontext wird in der Beantwortung
der Frage, ob Engel sich im Raum
bewegen können, deutlicher. In
Summa Theologiae I, 45: „De motu
locali angelorum“ wird unter der
Kapazität, sich gleichzeitig an meh-
reren Orten aufzuhalten, nicht die
körperlich verstandene Anwesen-
heit, als „motus qui est secundum
applicationem virtutis“ (I, 45, ad 2)
verstanden. Diese, im Verhältnis zu
materieller Kraft äquivoke, Rede von
einer höherstufigen „virtus“ klingt
in „virtuellen Realitäten“ nach. Vgl.
Anmerkung 4.
7 „per hoc replet omnia loca, quod
dat esse omnisbus locatis, quae re-
plent onmia loca“ (I, 8, 2).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven