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Christian Wessely | Wie spricht ein Geist zum anderen Geist?
die Megatrends, die u. a. ermöglichen, Lagerhaltung zu optimieren,
Vertriebswege zu planen oder Gewinnspannen zu kalkulieren.
̟ Die Nutzung der (verarbeiteten) Daten erfolgt intern (über die un-
ternehmenseigene Infrastruktur und zu den unternehmensimma-
nenten Zwecken) oder extern (durch Dritte, zu Zwecken, die sach-
verwandt oder auch völlig sachfremd sein können). Diese Nutzung
kann entgeltlich oder unentgeltlich erfolgen (das Open Access-Kon-
zept, das das derzeitige Publikationsparadigma der europäischen
Wissenschaft darstellt, zielt auf unentgeltliche Nutzung ab); in
den meisten Fällen zielt sie aber zumindest indirekt auf Gewinn ab
und wirft damit etliche Fragen auf, die von den ethischen Aspekten
der Handlungsoptionen des konkreten Unternehmens über recht-
liche Grauzonen (z. B. hinsichtlich des in den meisten europäischen
Ländern weder abtretbaren noch übertragbaren Urheberrechts9)
bis hin zu ökonomischen Problemlagen führen.
Da nun ein hohes Gut – der Schutz personenbezogener Daten, also ein
Eigen tumsrecht – unter gesetzlichen Schutz mit hohen Strafandrohungen
im Fall des Verstoßes gestellt wurde, sind plötzlich direkte Beziehungen
zwischen dem, was das Individuum maßgeblich bestimmt, und der digita-
len Sphäre10 hergestellt, die zuvor in dieser Form nicht gegeben waren. Es
ist interessant zu sehen, dass das in Europa hoch entwickelte Bewusstsein
für die Datenschutzproblematik (für das es in anderen Regionen der Welt
nur wenig oder keine Entsprechung gibt) hier dazu führt, dass erstmals
seit der breiten Einführung der Internetnutzung im Wege des World Wide
Web Anfang der 1990er-Jahre auf breiter Basis philosophisch argumentiert
wird bzw. werden muss, um Grundkategorien einzuführen, die der zugrun-
deliegenden Technik an sich fremd sind: Vertrauen, Wahrheit, Schuld und
Strafe/Sühne sowie Freiheit.11
Nun ist aber gleich die erste Grundkategorie, die des Vertrauens, eine sub-
jektive. Es ist in letzter Konsequenz immer jemand, der vertraut, und je-
mand, dem vertraut wird;12 das sogenannte „Vertrauen in ein System“ (z. B.
Vertrauen in den Rechtsstaat oder Vertrauen in die Funktion des Marktes)
ist immer ein sekundäres, d. h. ein indirektes Vertrauen in jene Personen,
die das System entworfen haben (soweit diese noch zugänglich sind), oder
in jene Personen, die die Vertrauenswürdigkeit des Systems bezeugen.13 Das
Vertrauen ist eine existenzielle Grundbedingung geglückten Mensch-Seins
(vgl. Luhmann 2014, 94): Es ist sozial unverzichtbar, auf den anderen bzw.
die andere in einer Grundhaltung des Vertrauens zuzugehen. Man ver-
9 Für Österreich: §23 UrhRG, bes.
(3).
10 Die DSGVO gilt der Sache nach
für jede Form von Datensammlung,
-verarbeitung und –verwendung.
Primär betroffen ist aber klarerweise
der Digitalsektor, da alle anderen
Formen dieser Prozesse kaum noch
eine praktische Rolle spielen.
11 Im angloamerikanischen Sprach-
raum wird meist von TEST gespro-
chen, ein Akronym für Trust, Empat-
hy, Sustainability und Transparency;
vgl. Kaufmann 2019. Es mag kaum
überraschen und ist Intention des
Autors, dass die für diesen Beitrag
gewählten Schlüsselbegriffe Ver-
trauen, Wahrheit, Schuld und Frei-
heit zugleich die wesentlichen für
die Theologie sind.
12 „Die Vertrauensperson genießt
einen gewissen Kredit, in dessen
Rahmen auch ungünstige Erfahrun-
gen zurechtinterpretiert oder ab-
sorbiert werden können.“ (Luhmann
2014, 37)
13 Nur am Rande sei an dieser Stelle
erwähnt, dass das Vertrauen in die
Authentizität der bezeugenden Per-
son in der Folge des Fragmenten-
streits rund um Lessing eine leitende
theologische Schlüsselkategorie
wurde, zunächst in der protestan-
tischen, später auch in der katholi-
schen systematischen Theologie. Die
bis dahin jeweils verfolgte primär
extrinsezistische Interpretation
von Offenbarung wurde dadurch in
unterschiedlichem Maße relativiert;
ohne eine entsprechend gewichtete
Zeugnisfunktion ist etwa Funda-
mentaltheologie heute kaum denk-
bar. Vgl. dazu Hansjürgen Verweyens
Ausführungen zum traditio-Begriff
in Verweyen 1991, 275–280.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven