Page - 122 - in Limina - Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
Image of the Page - 122 -
Text of the Page - 122 -
122 | www.limina-graz.eu
Christian Wessely | Wie spricht ein Geist zum anderen Geist?
starken KI als Möglichkeit zu denken. Aber als Konstrukt des Menschen,
als Resultat seines kreativen Aktes, wird ihm vom Menschen selbst, we-
niger im Rahmen philosophischer Reflexion als im Wege des alltÀglichen
Umganges damit, mehr oder weniger bedenkenlos solches zugestanden. Es
mutet vor dem Hintergrund des genannten Zitates in mehrfacher Hinsicht
eigenartig an, dass die Eigenschaften âdes Internetâ (gemeint war damit
meist das World Wide Web) schon seit den spÀten 1990er-Jahren in unter-
schiedlichen Konfigurationen mit den zentralen GottesprÀdikaten von All-
wissenheit, Allmacht, Allgegenwart und Ewigkeit in Verbindung gebracht
wurden.26 Vor dem Hintergrund eines solchen Alltagsgebrauches wird dies
nicht einmal mehr ausdrĂŒcklich angesprochen, sondern in schlĂŒssiger
Handlung ausgedrĂŒckt. Erst das Fehlen eines dieser Aspekte fĂ€llt auf: Google
weiĂ keine Antwort? Ich habe kein Netz? Ich kann auf eine bestimmte
Funktion in meinem Eigenheim oder woanders nicht zugreifen? Daten sind
verschwunden, die eigentlich da sein sollten? Erst diese Irritation macht
sichtbar, was als Implikation ganz selbstverstÀndlich angenommen wird.
Nun fehlt aber eine fĂŒr die abrahamitische Tradition in besonderer Weise
relevante Grundeigenschaft völlig, nÀmlich die der Barmherzigkeit. Anders
als die angefĂŒhrten PrĂ€dikate, die sich rein formal betrachten lassen, ist
das PrĂ€dikat âbarmherzigâ technisch nicht zu fassen. Das kann nicht ver-
wundern, denn es handelt sich dabei um eine radikal subjektive Freiheits-
dimension, innerhalb derer eine Person entgegen aller Wahrscheinlichkeit
einen ungeschuldeten und fĂŒr sich selbst nicht vorteilhaften Akt der Hin-
wendung zu einem anderen Subjekt vollzieht. Doch gerade die Barmher-
zigkeit ist es, die die anderen âEigenschaften Gottesâ erst als âgöttlichâ
begreifbar macht, und damit ist sie letztlich das Vorzeichen, das jene als
âgöttlichâ ausweist: Ewigkeit, Allgegenwart, Allmacht oder Allwissenheit
blieben ohne sie zwar grundsĂ€tzlich bestimmbar,27 aber sozusagen bloĂe
Fertigkeiten. Barmherzigkeit entzieht sich jeder logischen Definition, in-
dem sie gerade das Korsett der Logik durchbricht und sich im Letzten irra-
tional und jenseits aller Notwendigkeit verhÀlt (ein notwendig erfolgendes
Verhalten kann nicht barmherzig sein). Anders gesagt: In der Realisierung
der Möglichkeit barmherzigen Handelns (und nur in dieser!) wÀchst der
Mensch ĂŒber seine Immanenz radikal hinaus. Nach christlichem, ja nach
abrahamitischem VerstÀndnis insgesamt ist der Mensch nach dem Bilde
Gottes bzw. als sein Statthalter geschaffen (vgl. Gen 1,27 und Koran 2:30).
26 So vom Autor in Wessely 1998 im
Hinblick auf digitale Spielumgebun-
gen angesprochen.
27 Jede Bestimmung der Eigen-
schaften Gottes ist dabei eine Ana-
logie, die - theologisch - durch eine
je gröĂere UnĂ€hnlichkeit gebrochen
ist, vgl. KKK IV.43. Entsprechend ist
z. B. ĂŒber Ewigkeit nur eine Aussage
zu treffen, wenn zugleich der Zeit-
begriff völlig suspendiert wird. Dazu
vgl. Lohfink 2017.
Nun fehlt aber die Barmherzigkeit.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 3:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 3:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven