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Christian Wessely | Wie spricht ein Geist zum anderen Geist?
starken KI als Möglichkeit zu denken. Aber als Konstrukt des Menschen,
als Resultat seines kreativen Aktes, wird ihm vom Menschen selbst, we-
niger im Rahmen philosophischer Reflexion als im Wege des alltäglichen
Umganges damit, mehr oder weniger bedenkenlos solches zugestanden. Es
mutet vor dem Hintergrund des genannten Zitates in mehrfacher Hinsicht
eigenartig an, dass die Eigenschaften „des Internet“ (gemeint war damit
meist das World Wide Web) schon seit den späten 1990er-Jahren in unter-
schiedlichen Konfigurationen mit den zentralen Gottesprädikaten von All-
wissenheit, Allmacht, Allgegenwart und Ewigkeit in Verbindung gebracht
wurden.26 Vor dem Hintergrund eines solchen Alltagsgebrauches wird dies
nicht einmal mehr ausdrücklich angesprochen, sondern in schlüssiger
Handlung ausgedrückt. Erst das Fehlen eines dieser Aspekte fällt auf: Google
weiß keine Antwort? Ich habe kein Netz? Ich kann auf eine bestimmte
Funktion in meinem Eigenheim oder woanders nicht zugreifen? Daten sind
verschwunden, die eigentlich da sein sollten? Erst diese Irritation macht
sichtbar, was als Implikation ganz selbstverständlich angenommen wird.
Nun fehlt aber eine für die abrahamitische Tradition in besonderer Weise
relevante Grundeigenschaft völlig, nämlich die der Barmherzigkeit. Anders
als die angeführten Prädikate, die sich rein formal betrachten lassen, ist
das Prädikat „barmherzig“ technisch nicht zu fassen. Das kann nicht ver-
wundern, denn es handelt sich dabei um eine radikal subjektive Freiheits-
dimension, innerhalb derer eine Person entgegen aller Wahrscheinlichkeit
einen ungeschuldeten und für sich selbst nicht vorteilhaften Akt der Hin-
wendung zu einem anderen Subjekt vollzieht. Doch gerade die Barmher-
zigkeit ist es, die die anderen „Eigenschaften Gottes“ erst als „göttlich“
begreifbar macht, und damit ist sie letztlich das Vorzeichen, das jene als
„göttlich“ ausweist: Ewigkeit, Allgegenwart, Allmacht oder Allwissenheit
blieben ohne sie zwar grundsätzlich bestimmbar,27 aber sozusagen bloße
Fertigkeiten. Barmherzigkeit entzieht sich jeder logischen Definition, in-
dem sie gerade das Korsett der Logik durchbricht und sich im Letzten irra-
tional und jenseits aller Notwendigkeit verhält (ein notwendig erfolgendes
Verhalten kann nicht barmherzig sein). Anders gesagt: In der Realisierung
der Möglichkeit barmherzigen Handelns (und nur in dieser!) wächst der
Mensch über seine Immanenz radikal hinaus. Nach christlichem, ja nach
abrahamitischem Verständnis insgesamt ist der Mensch nach dem Bilde
Gottes bzw. als sein Statthalter geschaffen (vgl. Gen 1,27 und Koran 2:30).
26 So vom Autor in Wessely 1998 im
Hinblick auf digitale Spielumgebun-
gen angesprochen.
27 Jede Bestimmung der Eigen-
schaften Gottes ist dabei eine Ana-
logie, die - theologisch - durch eine
je größere Unähnlichkeit gebrochen
ist, vgl. KKK IV.43. Entsprechend ist
z. B. über Ewigkeit nur eine Aussage
zu treffen, wenn zugleich der Zeit-
begriff völlig suspendiert wird. Dazu
vgl. Lohfink 2017.
Nun fehlt aber die Barmherzigkeit.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Band 3:2
- Titel
- Limina
- Untertitel
- Grazer theologische Perspektiven
- Band
- 3:2
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 4.0
- Abmessungen
- 21.4 x 30.1 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven