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Gerhard Langer | Essen und Trinken als Ausdruck von Identität und Diversität im (rabbinischen) Judentum
Völker nach Jerusalem an den neu erbauten Tempel strömen, wo die Opfer
auch wieder dargebracht werden können. Mit der Staatsgründung Israels
und mit der Wiedervereinigung ganz Jerusalems 1967 ist zwar ein StĂĽck
weit die Utopie zur Realität geworden, aber die Wiedererrichtung des Tem-
pels und damit die Opfergesetzgebung ist nach wie vor in weiter Ferne und
bleibt nach Ansicht des observanten2 Judentums an die Ankunft des Mes-
sias gebunden.
Nach der Tempelzerstörung haben vor allem die Rabbinen – eine bunt ge-
mischte Gruppe, deren Ziel es war, die Identität des Judentums auf der Ba-
sis bestimmter vorhandener biblischer priesterlicher, weisheitlicher und
schriftgelehrter Traditionen neu zu formieren – maßgeblich dazu beige-
tragen, dass das Judentum bis heute existiert und ĂĽber die BrĂĽche hinaus
Kontinuität wahren konnte.
Das Opfer sollte nach Ansicht der Rabbinen durch das Studium (allgemein
und im Besonderen durch das Studium der Opfervorschriften), Gebet und
gute Werke ersetzt werden (vgl. u. a. Mischna Avot 1.2). Und auch wenn der
Begriff der „Heiligung des Alltags“ schon ziemlich abgenützt erscheint, so
kann doch gelten, dass die Rabbinen viele Bestimmungen aus dem Bereich
des Kultes und des Heiligen in das tägliche häusliche Leben und in den Be-
reich des Lehrhauses ĂĽberfĂĽhrten. Dies gilt auch fĂĽr Regelungen in Bezug
auf Essen, Trinken und Fasten.
Grundlegend gilt, dass die Regeln, die bereits in der Bibel aufgestellt wur-
den, erhalten blieben, allerdings expliziert und weiterentwickelt wurden.
Im Folgenden möchte ich diese Regelungen erläutern und dabei auf ver-
schiedene Aspekte besonders hinweisen. Dabei soll der biblische Hinter-
grund der Speisegesetzgebung vorgestellt und danach auf die Rezeption
mit Schwerpunkt auf die rabbinische Bewegung eingegangen werden. Ich
konzentriere mich dabei auf den Aspekt der Abgrenzung nach auĂźen (zur
Identitätsfestigung) und innen (Diversität). In einem weiteren Schritt ana-
lysiere ich die Frage der metaphorischen Verwendung der Speisegesetz-
gebung in der jĂĽdischen Tradition.
2 Koscher, was ist das?
Es ist gängig, erlaubte und nach den Religionsgesetzen zubereitete Speisen
mit dem Begriff koscher (aschkenasische Form des hebräischen kascher, mit
dem dazugehörigen Nomen kaschrut) und unerlaubte mit dem Begriff trefe
2 Ich verwende den Begriff „obser-
vant“ anstelle von „orthodox“, da
letzterer nicht selten eine negativ
gefärbte Konnotation hat. Er ist
zwar auch im Judentum als Eigen-
bezeichnung geläufig, viele „Ortho-
doxe“ sprechen von sich aber lieber
als „toratreu“ oder eben „(tora-)
observant“. Auch der Begriff „ultra-
orthodox“ für besonders observante
Gruppen wird dort vermieden. Hier
spricht man stattdessen von „chare-
disch“ (eine Ableitung aus dem He-
bräischen für „vor dem Wort Gottes
erzittern“).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven