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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
schaft entwickelte sich und wurde in der Krise gefestigt, aber auch ständig
und immer neu angefragt.
Wie umgehen mit diesen vielen Brüchen, diesen andauernden Angriffen auf
jüdische Identität? Schon einige Jahrhunderte vor der Zeitenwende dachten
jüdische Autoren über eine imaginäre Mahlgemeinschaft in der Kommen-
den Welt nach, bei der alle Krisenerfahrungen außen vor stehen würden,
die zeitgenössischen Konflikte keine Rolle mehr spielten, die Gerechten
gesiegt hätten und Mangel und Leiden verschwunden sein würden. Lite-
rarisch spiegelten sich diese Vorstellungen, die mit der sich etablierenden
apokalyptischen Bewegung noch erstarkten, in den Texten vom Mahl in der
Kommenden Welt wider. Auf der Suche nach Identität im tatsächlichen und
vor allem im imaginierten Mahlgeschehen wurden im damaligen Kultur-
raum um das Mittelmeer herum auch verstärkt altorientalische Ideen auf-
gegriffen und aktualisiert, die mythischen altorientalischen Traditionen
(Chaoskampfmotiv) und die des eigenen Volkes (Paradiesvorstellungen,
Berg Gottes) in die Endzeit hinein projiziert (siehe dazu auch Collins 1975;
Levenson 1988).
Beispieltexte4
Einer der ältesten Hinweise auf Ideen vom gemeinschaftlichen Mahl in der
Kommenden Welt, das nicht immer ausführlich und in unterschiedlicher
Betonung in antik-jüdischen Texten behandelt wird, findet sich in einem
Abschnitt des Äthiopischen Henochbuches, der dem Buch der Wächter zu-
geordnet wird, einer Schicht des Werkes, die wohl einige Jahrhunderte vor
der Zeitenwende entstand5 (1 Hen 25,4–6):
„4 Und dieser wohlriechende Baum: kein Sterblicher hat die Macht, ihn
zu berühren, bis zum großen Gericht; wenn er alles vergelten und voll-
enden wird für die Ewigkeit, (dann) wird er den Gerechten und Demü-
tigen übergeben werden (als Speise). 5 Von seiner Frucht (erwächst) den
Auserwählten das Leben, und er wird nach Norden hin an einen heiligen
Ort gepflanzt werden, bei dem Haus des Herrn, des Königs der Welt. 6 Da
werden sie sich freuen voller Freude und fröhlich sein, am heiligen (Ort)
werden sie (eintreten), seinen Wohlgeruch in ihren Gebeinen, und sie
werden ein langes Leben auf Erden leben, wie es deine Väter lebten, und
4 Für weitere Texte siehe Bergmann
2019.
5 Datierungsversuche auf das 3. und
2. Jahrhundert v. u. Z.: Uhlig 1984,
494; Aune 2006, 14; Tigchelaar
1999, 38. Schon einige Jahrhunderte vor der Zeitenwende dachten jüdische Autoren
über eine imaginäre Mahlgemeinschaft in der Kommenden Welt nach.
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven