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Moritz BaĂler
genannt werden, sondern auch jene, zu denen sie im popkulturellen Referenzsys-
tem in Ăquivalenz- oder Oppositionsbeziehungen stehen. Und nur weil das so ist,
weil einzelne Textstrategien eben ein ganzes Archiv aufzurufen imstande sind,
lassen sich in einem zweiten Schritt dann auch die Selektionskriterien benennen
und kritisieren, die den jeweiligen Popliteraten und seine Texte kennzeichnen.
Damit tut man im Grunde nichts anderes, als diesen Text vor dem von ihm selbst
definierten semiotischen Hintergrund zu semantisieren, also: ihn richtig zu
lesen.
Die Beschreibung von textuellen SelektionsvorgÀngen ist also, strukturalis-
tisch gefasst, die Definition von Paradigmen. Archivanalytisch gesprochen
bedeutet das die Erfassung von Ăquivalenzstrukturen im Archiv. Im Vergleich mit
den entsprechenden Okkurrenzen in anderen Texten wird die manifeste Text-
stelle semantisiert. Das ist genau das, was eine kulturwissenschaftliche Literatur-
wissenschaft tut. Und dabei gilt schlichterdings, wenngleich ernĂŒchternder-
weise: Was nicht im Archiv ist, kann auch nicht gelesen werden, weder als
manifester Text noch als Vergleichstext.
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Hier liegt nun ein Einwand nahe, nÀmlich der, dass insbesondere historische
Archive ja niemals vollstĂ€ndig sind, dass viele Dinge einer Kultur â wie der Alltag
von Frau Krumhardt und ihren Kindern â niemals aufgezeichnet werden und
dass selbst von den Aufzeichnungen und anderen objektförmigen Zeugnissen die
allermeisten im Verlaufe der Historie zerstört werden. âArchive, digitale zumalâ,
behauptet etwa Martin Warnke ganz grundsĂ€tzlich, âĂŒberdauern nur, wenn sie
stÀndig benutzt werden, wenn eine erhaltende Instanz sie stets neu kodifiziert,
interpretiert und bewertetâ (Warnke 2002, 280). Das allerdings scheint mir, ĂŒber
technische Probleme des Erhalts von DatentrÀgern hinaus, so nicht zutreffend.
Ein Archiv ist etwas anderes als ein GedÀchtnis. Was im Archiv ist, kann prinzipi-
ell immer auch gelesen werden, selbst wenn es nie dazu gedacht war oder Codes
und LesegerĂ€te erst mĂŒhsam rekonstruiert werden mĂŒssen. Die Ă€gyptischen Hie-
roglyphen-Inschriften und Papyri etwa wurden jahrhundertelang weder gelesen
noch benutzt. Nur aufgrund ihres reinen Objektcharakters, sozusagen als un-
semantisierte Objekte, haben sie ĂŒberdauert und können heute wieder Teil eines
Archivs, also von Vergleichs- und Semantisierungsoperationen sein. Der Rosetta-
Stein, ohne den wir vermutlich bis heute diese Schrift nicht lesen könnten, hat als
Teil einer Steinmauer ĂŒberdauert, viele mittelalterliche Texte kennen wir nur,
weil sie zufÀllig auf ein Material geschrieben wurden, das sich spÀter zum Einbin-
den von BĂŒchern eignete. Archiv und GedĂ€chtnis sind also zu unterscheiden.
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik