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19Eine
Geschichte der Mauthausen-Ăśberlebenden |
zurückgreifen können, eine empathische Haltung gegenüber den Verfolgten des Nati-
onalsozialismus.23
Allerdings wird im populären und medialen Verständnis oft das Erzählte mit dem
Wirklichen gleichgesetzt und die unvermeidlich subjektive Sicht der Zeugen nur in-
tuitiv wahrgenommen. Systematisch untersucht wird diese nicht, was unter Umstän-
den zu historischen Missverständnissen und falschen Geschichtsbildern führen kann,
wenn die subjektiven Schilderungen der Zeugen unhinterfragt in offizielle Geschichts-
narrative ĂĽbernommen werden. Selbst unter Fachhistorikern und -historikerinnen
und anderen Humanwissenschaftern und -wissenschafterinnen wird oft diese Diffe-
renz von – vereinfachend gesagt – Fakten und Fiktion übersehen und den Archivquel-
len als vermeintlich objektiven Dokumenten der Vorrang eingeräumt.24
Bei manchen traditionellen Historikern und Historikerinnen hat der subjektive
Charakter von Autobiografien und Oral-History-Interviews zu einer pauschalen Ab-
wertung von Erinnerungsberichten gefĂĽhrt.25 Wurden sie herangezogen, dienten sie
lediglich zur Untermalung von Stimmungen.26 So hat die Aufdeckung gefälschter Erin-
nerungsberichte wie im Jahr 2005 desjenigen von Enric Marco, der sich jahrzehntelang
als Überlebender des KZ Flossenbürg ausgab und zum Präsidenten der spanischen
Amical de Mauthausen aufsteigen konnte, diese Skepsis für manche weiter genährt.27
Selbst der international sehr geschätzte israelische Historiker Saul Friedländer, der
zwar die Bedeutung der persönlichen Dokumente auf «minimaler individueller Ebene»
betont, sieht deren Nutzen vor allem in der Ergänzung, kritischen Kontextualisierung
und erzählerischen Verdeutlichung der großen strukturierenden Erklärungen der mit-
einander verflochtenen Vorgänge der Verfolgung und Vernichtung im «Dritten Reich».
Mit seinem Konzept der integrierten Geschichte fordert er zwar, die Perspektive der
23 Zur Personalisierung des Opfergedenkens vgl. Kristin-Susanne Häselhoff/Christina Reinhold-Häbich :
Die Erinnerung braucht ein Gesicht. «Frauenbilder» in Ravensbrück, in : Petra Fank/Stefan Hördler
(Hg.), Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses. Formen der Aufarbeitung und
des Gedenkens, Berlin 2005, S. 247–261 ; Romani Rose : Den Opfern ein Gesicht und eine Geschichte
geben. Die Notwendigkeit von Personalisierung beim Gedenken an die Holocaust-Opfer der Sinti und
Roma, in : ebd., S. 221–236 ; Anita Farkas : Sag mir, wer die Toten sind ! Personalisierung des Opfergeden-
kens am Beispiel der NS-Opfer von Peggau, Klagenfurt 2002.
24 Darauf hat nachdrĂĽcklich hingewiesen : Richard J. Evans : Fakten und Fiktionen. Ăśber die Grundlagen
historischer Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1999, S. 7 f. Zu Österreich siehe : Gerhard Botz : Oral History in
Austria, in : BIOS, Sonderheft (1990), S. 97–106.
25 Im Falle Mauthausens wurde diese Kritik am pointiertesten formuliert von Pike, Spaniards in the Holo-
caust, S. xiv–xv.
26 Wagner, Produktion des Todes, S. 30. In Bezug auf schriftliche Memoiren wurde dies nachdrĂĽcklich von
dem britischen Historiker A. J. P. Taylor formuliert : «useless except for atmosphere» ; zit. nach : Paul
Thompson : The Voice of the Past. Oral History, Oxford/New York 32000 [1978], S. 121.
27 Vgl. Javier Cercas : Der falsche Überlebende, Frankfurt a. M. 2017 [2014]. Grundsätzlich : Irene Diek-
mann/Julius H. Schoeps (Hg.) : Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der
Sehnsucht, Opfer zu sein, MĂĽnchen/ZĂĽrich 2002.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen