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103Die
Interviewten des MSDP |
Frauen stimmt die Nennung des Verfolgungsgrundes (politisch vs. Zwangsarbeit)
nicht immer mit der Haftkategorie in den SS-Akten überein (politisch vs. RZA).
Bildung
Zur Frage, ob der Bildungsstand eines Häftlings für das Überleben in einem Konzent-
rationslager von Bedeutung war, gibt es bis heute keine empirischen Untersuchungen,
aber sehr unterschiedliche Auffassungen. An den entgegengesetzten Polen stehen da-
bei die Sichtweisen von Jean Améry in seinem Essay «An den Grenzen des Geistes»
(1966) und Primo Levi, der in «Der Intellektuelle in Auschwitz» (1986) darauf repli-
zierte. Grundlegend ist für beide ein erweiterter Bildungsbegriff, der über die formale
Bildung, Schulwissen oder Kenntnisse eines oder mehrerer Berufe hinausgeht und «in-
korporiertes kulturelles Kapital» im Sinne Bourdieus umfasst.47
Améry vertrat die Position, dass die Angehörigen der Intelligenzberufe im Lager
zum «Lumpenproletariat» gehörten, ihre Ausbildung dort keine Relevanz für die Zu-
teilung zu Arbeitskommandos hatte und sie aufgrund ihrer mangelnden handwerkli-
chen Fähigkeiten nicht nur von der SS, sondern auch von Mithäftlingen wenig geachtet
wurden. Die Tragik des Intellektuellen war nach Améry seine Isolation im Lager, er
«hatte den Vernichtern mit all seinen Kenntnissen, Analysen weniger entgegenzuset-
zen als der ungeistige [Mensch]».48 In seiner Replik auf Améry vertrat Levi einen an-
deren Begriff des Intellektuellen ; er selbst hatte sich in Auschwitz nicht als solcher
verstanden. Körperliche Arbeit hatte er nicht grundsätzlich als demütigend empfun-
den. Auch Levi sieht Bildung durchaus als Nachteil im Alltag des Konzentrationslagers,
fragt aber auch nach den Vorteilen und kommt zu dem Schluss : «sie konnte einige
Stunden verschönern, eine flüchtige Begegnung zu einem Gefährten herstellen und
den Verstand gesund und lebendig erhalten».49 Die Soziologin Maja Suderland, die
in den unterschiedlichen Bildungshintergründen und gegensätzlichen Lebenseinstel-
lungen die Ursache für diese so verschiedenen Einschätzungen sieht, zeigt an einer
Reihe von Beispielen, dass «Bildung unabhängig vom jeweiligen Konzentrationslager,
von Alter, Geschlecht, Konfession und [formalem, HB/AP] Bildungsstand als letzte
Reserve gegen die Selbstaufgabe dienen konnte».50
Eine inhaltliche Analyse der MSDP-Interviews kann solche Bezüge auf Bildung
und Ausbildung im Alltag des Konzentrationslagers im Detail untersuchen. An dieser
47 Maja Suderland : Bildung, Distinktion und Habitus. Überlebensressourcen in der sozialen Welt der na-
tionalsozialistischen Konzentrationslager, in : Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation
23.3 (2003), S. 302–319, hier 303.
48 Jean Améry : An den Grenzen des Geistes, in : ders., Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversu-
che eines Überwältigten, Stuttgart 2000 [1966], S. 18–45, hier 33.
49 Primo Levi : Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1993 [1986], Kapitel «Der Intellektuelle
in Auschwitz», S. 131–154, hier 147.
50 Suderland, Bildung, Distinktion und Habitus, S. 316.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen