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Weggabelungen und EinbahnstraĂźen |
Das Novemberpogrom markiert in der Lebensgeschichte Kleinmanns einen deutlichen
Wendepunkt : Nachdem der Alltag einer jĂĽdischen Familie durch die zahlreichen anti-
jüdischen Maßnahmen bereits markanten Einschränkungen unterworfen worden war,
wurde in der «Reichskristallnacht» die Familie Kleinmann zum ersten Mal physisch
bedroht. An anderer Stelle erzählt Fritz Kleinmann, dass er damals auch von Nachbarn,
die sich der SA angeschlossen hatten, verhaftet wurde. Die zunehmend antijĂĽdische
Stimmung und Politik hatte Einzug in das private Leben und Umfeld der Kleinmanns
gehalten.
Ganz anders waren die Auswirkungen, die die nationalsozialistische MachtĂĽber-
nahme auf Hermann Leins Alltag hatte, der zu dieser Zeit bei «Neuland» engagiert war :
Mit der automatischen Integration des katholischen Jugendverbandes in die Hitler-
jugend verschwamm für Lein jenes Zugehörigkeitsgefühl, das er gegenüber «Neuland»
empfunden hatte, und gemeinsam mit anderen Jugendlichen grĂĽndete er eine neue
Pfarrgruppe, die beschloss, sich dem Regime entgegenzustellen. Hermann Lein schil-
dert die GrĂĽndung dieser Gruppe als unmittelbare Reaktion der Jugendlichen auf die
Eingliederung ihrer Vorgängerorganisation in die Hitlerjugend :
«Naja. Na schauen Sie. 38 ist also der größte Teil meiner [betont] Gruppe allerdings, es hat
damals nicht mehr Neuland gegeben, die, die war, die waren schon HJ. Das, das kenn ich
auch alles. Ned, also. Ich tu mir da nichts vor machen. Und, – – naja, – – – wir haben uns
zurückgezogen und wir haben uns unscheinbar gemacht. – – Und mehr konnte man nicht
machen, nicht. – – Das heißt, es ist so, die, die Nazi haben ja den, den, – – den katholischen
Jugendlichen sozusagen eine Lücke offen gelassen. Das heißt, also es war durchaus möglich,
in einer Pfarrstunde religiöse Vermittlungen zu gehen [sic]. –Â
–Â
– Und so waren wir auch eine
solche Pfarrgruppe.»35
Warum ein Teil der ehemaligen «Neuland»-Mitglieder sich konkret dazu entschlossen
hatte, sich oppositionell zu engagieren, geht aus der Erzählung nicht hervor. Deutlich
wird aber, dass Hermann Lein die GrĂĽndung der Pfarrgruppe als einen den Jugend-
lichen bewussten Prozess schildert mit dem Ziel, nationalsozialistische Strukturen
zu unterlaufen. Zwar wurde der Aktionsradius fĂĽr die Gruppe begrenzter und ihre
Tätigkeit risikoreicher. Hermann Lein berichtet im Interview auch von Spitzeln, die
eingeschleust wurden, sowie von Gestapo-Kontrollen. Die Jugendlichen blieben aber
in ihrer widerständigen Praxis zunächst aktiv und konnten eine Lücke des national-
sozialistischen Systems fĂĽr sich nutzen. Der Bruch, den die nationalsozialistische
Machtübernahme für Lein zunächst bedeutete, war also – anders als etwa bei Fritz
Kleinmann – durch eine Reaktion der Jugendlichen auf die politische Veränderung ge-
kennzeichnet, die sie – im Gegensatz zu den Erfahrungen Horvaths und Kleinmanns –
weiterhin aktiv und handlungsfähig bleiben ließ.
35 AMM, MSDP, OH/ZP1/003, Interview Lein.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen